Anthroposophie: Religion im Widerspruch zum Christentum?
Wenn Kinder Eurythmie als Schulfach haben, Alternativmediziner den Astralleib mitbehandeln oder ein "Demeter"-Landwirt Wasser versprüht, das zuvor durch Kuhdung "dynamisiert" wurde, der wiederum einen Winter lang im Boden vergraben lag um kosmische Kräfte zu sammeln - dann stecken die Lehren Rudolf Steiners dahinter, des vor 150 Jahren geborenen Begründers der Anthroposophie.
27.02.2011
Von Ulrich Pontes

Zwar mögen der Waldorfschüler, der Patient eines anthroposophischen Heilkundlers und der Käufer von biologisch-dynamischen Lebensmitteln wenig bis nichts mit der Anthroposophie am Hut haben. Aber die von ihnen genutzten Angebote fußen auf Steiners Lehre: Sie sind letztlich nur im Rahmen der Anthroposophie, der "Weisheit vom Menschen", zu erklären.

Was also steckt hinter dieser Anfang des 20. Jahrhunderts begründeten Lehre? Steiner selbst wollte sie von den Religionen abgrenzen und bezeichnete sie als "Geisteswissenschaft". Mit Germanistik, Kunstgeschichte oder akademischer Philosophie hat sie allerdings nichts gemein. Für Experten wie den Weltanschauungsbeauftragten der badischen Landeskirche, Jan Badewien, ist klar: "Die Anthroposophie hat deutlich religiöse Züge" - schließlich beschreibe sie einen (angeblichen) Heilsweg des Menschen. Steiner selbst bezeichnete die Anthroposophie als Erkenntnisweg, "der das Geistige im Menschenwesen zum Geistigen im Weltenall führen möchte".

Goethe als wichtige Inspirationsquelle

Die geistige, übersinnliche Welt war für Steiner realer und bedeutsamer als die körperliche Welt. Darin war ihm Goethe eine wichtige Inspirationsquelle. Vor allem aber gründet die Anthroposophie ganz wesentlich auf der etwa 30 Jahre früher entstandenen Theosophie. Diese versuchte, eine Synthese des gesamten Wissens ihrer Zeit zu schaffen: Von den verschiedenen Religionen in Ost und West ausgehend, versuchte sie eine tiefere, hinter den konkreten Lehren stehende Weisheit zu abstrahieren und diese mit dem damaligen Verständnis von moderner Wissenschaft zusammenzubringen. Dabei entstand ein komplexer Kosmos, der neben der physischen Welt noch zwei "feinstoffliche" und vier geistige Ebenen umfasst, allesamt höher und wichtiger als die materielle Welt.

Durch diese sieben Ebenen führt in Theo- und Anthroposophie nun eine Art kosmische Evolution: Der Mensch - gegliedert in Körper, ätherischen Leib, Astralleib und (geistiges) Ich - bewegt sich derzeit in den vier untersten Ebenen. Durch Epochen und zahlreiche Reinkarnationen des Individuums hindurch kann und wird er sich aber in die höheren geistigen Sphären emporarbeiten. Auf diesem Weg, so die Überzeugung, gehen dem Menschen bereits zahlreiche andere Wesen voraus - je nach erreichter Ebene zu untergliedern in Engel, Erzengel und so weiter.

Steiner erhob den Anspruch, in diese geistigen Welten ganz besonderen Einblick zu besitzen. Und, selbst katholisch geprägt und zeitlebens Kirchenmitglied, betonte er gegenüber der stärker hinduistisch und buddhistisch beeinflussten Theosophie die Bedeutung der christlichen Religion. Christi Kommen in die Welt und die Kreuzigung, bei Steiner "das Mysterium von Golgatha" genannt, werden für die Anthroposophie - im Gegensatz zur Theosophie - zu entscheidenden Momenten der kosmischen Evolution.

Kritischer Blick der Theologen

Trotz dieses auf den ersten Blick christlichen Anliegens beurteilen christliche Theologen die Anthroposophie äußerst kritisch. Zum einen schuf Steiner ein überaus kompliziertes und, jedenfalls aus Sicht der meisten heutigen Menschen, reichlich abstruses Gedankengebäude. "Attraktiv ist die Anthroposophie eigentlich nur für Anthroposophen", befindet Weltanschauungsexperte Badewien. Entsprechend wenige Menschen ließen sich heute dafür begeistern.

Wichtiger aber ist der zweite Kritikpunkt: Auch wenn die Anthroposophie einige zentrale christliche Begriffe betone, interpretiere sie diese doch radikal um. Letztlich handele es sich um eine Selbsterlösungslehre, so Badewien. Ein Widerspruch also zur christlichen Botschaft von Gottes Gnade und der Erlösung allein durch Jesus Christus. Auch Steiners Auffassung vom Wesen des Menschen sowie die Lehre von Karma und Reinkarnation passen überhaupt nicht zu einem auf der biblischen Überlieferung gegründeten Glauben. "Letztlich ist die Anthroposophie eine esoterische Weltanschauung", befindet Badewien.

Die Christengemeinschaft als den ausdrücklich religiösen Arm der Anthroposophie schließt Badewien in seine Grundsatzkritik mit ein. Die Christengemeinschaft selbst sieht sich als dem Christentum eng verbundene "Bewegung für religiöse Erneuerung". Die liturgischen Texte der "Menschen-Weihehandlung" (so heißt hier der Sakramentsgottesdienst) wurden allerdings von Rudolf Steiner vorgegeben, beruhen auf seiner Lehre und sind seither in Stein gemeißelt. Dadurch entfernen sich etwa Taufe und Glaubensbekenntnis spürbar von der christlichen Tradition.

"Deutliche Differenzen"

Versuche der Christengemeinschaft, in die ökumenische Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen (ACK) aufgenommen zu werden, sind gescheitert. Zuletzt versagte 2010 die ACK Oldenburg der örtlichen Christengemeinschaft den Gaststatus wegen "deutlicher Differenzen" in zentralen Lehrbereichen, nachdem man die Glaubensbekenntnisse verglichen und sich intensiv darüber ausgetauscht hatte.

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Auch der systematische Theologe Werner Thiede, der sich in seiner Habilitationsschrift ausführlich mit Steiners Lehre auseinandergesetzt hat, sieht die Anthroposophie klar außerhalb der christlichen Ökumene. Sie sei der Gnosis zuzuordnen, die sich als mystische Erkenntnisbewegung bereits vom frühen Christentum abspaltete. "Der Gnosis und eben auch der Anthroposophie geht es darum, dass der Mensch seinen eigenen Kern als göttlich erkennt", sagt Thiede - im Christentum ist Gott dagegen ein Gegenüber für den Menschen.

Der Erlanger Theologieprofessor gesteht zu: Die Anthroposophie stehe dem christlichen Glauben näher als ein rein materialistisches Weltbild. Aber zu Kirche gehöre schließlich mehr als Spiritualität: "Gerade weil die Anthroposophie Christus und das 'Mysterium von Golgatha' so betont, diese Begriffe aber ganz anders als im biblischen Sinn verwendet, muss die Kirche sich klar abgrenzen, sonst entsteht nur Verwirrung." Zwar könne die Kirche bei wohlwollender Betrachtung einige wenige gute Impulse aus der Anthroposophie ziehen - etwa, sich auf die zentrale Bedeutung Christi zu besinnen. Dies müsse sich die Kirche heute wieder neu ins Stammbuch schreiben lassen. "Aber", ergänzt Thiede, "Christuszentriertheit können wir viel besser bei Luther lernen als bei Steiner."


Ulrich Pontes ist freier Journalist in Mainz und interessiert sich besonders für das Spannungsfeld von Wissen und Glauben.