Kirche "Medenbach-West": Erholen und Beten an der A 3
Wer auf seiner Fahrt über die A 3 (Köln-Frankfurt) an der Raststätte Medenbach-West hält, kommt automatisch an der Autobahnkirche vorbei. Vor allem LKW-Fahrer und Geschäftsleute nutzen die kleine Kapelle, um auszuruhen und zu beten – dabei wollen sie am liebsten allein sein. Jedes Jahr kommen mehr als 50 000 Besucher.
24.02.2011
Von Anne Kampf

Manche huschen nur kurz rein, zünden eine Opferkerze an, beten still und huschen wieder raus. Ibrahim Tekardic aus Rimbach ist so ein typischer Blitzbesucher: Er trägt eine Arbeitshose, einen bunten Strickpulli und eine Mütze, ist mit einem Kollegen unterwegs. Die beiden transportieren Schläuche und Speiskübel auf einem Anhänger. Zufällig sind sie hier vorbeigekommen, Ibrahim wollte mal eben in die Kirche hineinschauen, sah die Opferkerzen dachte sich: "Warum nicht?" Seine Frau hat Krebs, sie wird im März operiert. Er hat für sie gebetet – "Vielleicht hilft es." Ibrahim ist Alevit, die Kirche ist evangelisch, doch das stört ihn nicht. "Ich habe Respekt für alle Religionen", sagt er.

Küsterin Patricia Rehn von der evangelischen Kirchengemeinde Medenbach schaut in der Kirche regelmäßig nach dem Rechten, fegt den Boden, legt neue Broschüren in die Auslagen. Sie wundert sich oft, wer hier ein- und ausgeht, und vor allem: Was die Besucher auf dem Herzen haben. "Meistens sind es Männer mit Anzug und Krawatte", erzählt sie, "und die wissen auch manchmal nicht, wo's lang geht." Einer, der regelmäßig auf der A 3 unterwegs ist, schreibt bei jedem Stopp dasselbe Gebet ins Anliegenbuch, das an einem schmalen Fenster bereit liegt.

Anliegenbücher in 26 Bänden: "Da steht das Leben drin"

Es ist schon der 26. Band, berichtet Armin Schmidt, der Vorsitzende des Kirchenvorstandes. Die anderen 25 vollgeschriebenen Bücher lagern im Gemeindebüro in Medenbach. "Du hörst mein Gebet", hat jemand notiert, ein anderer: "Verzeih mir, wenn ich zweifle." Jemand erbittet "für Udo einen Extra-Segen", dazwischen Einträge auf Arabisch, Polnisch oder Tschechisch. Und immer wieder ein Dankgebet von Berufspendlern: "Ich möchte dir gerne danken, dass du mich auf meiner wöchentlichen Reise, die hier vorbeiführt, immer wieder mal zum Ruhen, Erholen und Beten hier herein holst."

Rund 50 000 Menschen kommen jedes Jahr – oder noch mehr, denn die Kirchengemeinde kann nicht die Besucher zählen, sondern nur die Opferkerzen, die verbraucht werden. Patricia Rehn stellt jeden Tag neue ins Regal. Angezündet werden die Kerzen in einer Aussparung in der rotbraunen Ziegelwand, darüber hat sich Ruß angesammelt. Auch vor dem Altar brennt eine Kerze, auf dem mächtigen hellen Granitblock liegt eine aufgeschlagene Bibel.

"Viele suchen in dieser Kirche nach dem Kreuz", erzählt Armin Schmidt. Man erkennt es nur, wenn man sich Zeit lässt und sich entspannt: Zwischen 80 an der Wand befestigten Beton-Fußbodenplatten hat der Architekt zwei Reihen ausgelassen, eine längs und eine quer: das Kreuz als Negativ. Die hellgrauen Platten sind dieselben wie auf dem Kirchenboden. "Auf dem Weg, auf dem ich gehe, ist auch das Kreuz zu finden", erklärt Armin Schmidt die Symbolik.

Wanderer kommen durch Streuobstwiesen

Architekt Hans Waechter hat mit seinem Ideen vor zehn Jahren den Wettbewerb um den Bau der Autobahnkirche gewonnen. In drei Stufen führt er die Besucher in die Stille hinein. Stufe eins: Draußen im Lärm der vorbeirauschenden Autos und LKW. Stufe zwei führt auf einem Sandweg durch einen Arkadengang in den Innenhof, wo neun Wassersprudler den Autobahnlärm übertönen. Stufe drei: Drinnen hört man fast nichts mehr. 20 Stühle stehen hier mit Blick zum Altar. Geht man auf die andere Seite des Raumes und schaut nach oben, sieht man das aufwändig gestaltete Glasdach: Künstler Johannes Schreiter überlässt die Deutung seiner blau-weißen Darstellung dem Betrachter. Es könnte eine riesige Kerze sein.

Die Kirchengemeinde Medenbach ist zu dieser Autobahnkirche gekommen "wie die Jungfrau zum Kinde", erzählt Armin Schmidt vom Kirchenvorstand. Ein Wiesbadener Geschäftsmann, Alfred Weigle, wollte für ein soziales Projekt Geld stiften und kam beim Besuch der ältesten deutschen Autobahnkirche in Adelsried (Bayern) auf die Idee, dass ein solcher Anlaufpunkt für Reisende sich auch an der A 3 gut machen würde. Weigle realisierte seine Idee zusammen mit der evangelischen  Kirchengemeinde Medenbach. Es traf sich, dass genau zwischen der Tankstelle und der Rastanlage Medenbach-West ein passendes Grundstück zur Verfügung stand.

Aus dem 2600-Einwohner-Dorf Medenbach kommen sonntags oft Spaziergänger: Einmal zur Autobahnkirche und zurück, an Streuobstwiesen vorbei, eine schöne Strecke. Für manche darf es auch etwas weiter sein: Zwei Wanderer aus Eppstein sind an diesem Wintertag vorbei gekommen, mit Mützen und Wanderstiefeln. Sie sind auf Erkundungstour für ihre Wandergruppe und beschließen, dass die Autobahnkirche ein lohnendes Ziel sein kann. Zumal es nebenan in der Raststätte Kaffee und Kuchen gibt. 

Ruhe finden und mit den Gedanken klarkommen

Gerne würde Armin Schmidt auch die Menschen von "gegenüber" erreichen. Er wünscht sich eine Fußgängerbrücke von "Medenbach-Ost" nach "Medenbach-West". Vor einigen Jahren gab es einen tragischen Unfall: Ein Mann wurde auf der Autobahn überfahren und starb. Er war LKW-Fahrer, wollte zu Fuß rüber. "In seinem Taschen fand die Polizei einen Rosenkranz und Heiligenbildchen", berichtet Armin Schmidt – gut möglich, dass der Mann in die Autobahnkirche wollte.

Immer wieder ist Küsterin Patricia Rehn überrascht, welche Besucher in die Kapelle kommen, und was sie hier tun. "Einmal kam eine Familie mit drei Kindern. Die fingen hier an zu singen – das war schön!" Später traf sie bei einem Routinebesuch zwei ebenfalls singende junge Männer an und legte daraufhin ein Gesangbuch neben die Bibel auf den Altar. Ansonsten lässt Patricia Rehn die Gäste allerdings in Ruhe. Sie wollen nicht angesprochen werden, sondern für sich sein, Ruhe finden, mit ihren Gedanken klarkommen, "gerade die Männer, von denen man das nicht vermuten würde", sagt die Küsterin. Wenn jemand sich setzt und länger in der Bibel liest, zieht sie sich in ihren Arbeitsraum zurück und wartet ab.

An diesem Nachmittag taucht ebenfalls noch ein einzelner Mann auf, schlank, schwarz gekleidet. Er schaut sich um, sucht nach einer Beschreibung für das Kunstwerk in der Glasdecke, blättert im Anliegenbuch, zündet eine Kerze an. Ob er beruflich oder privat unterwegs ist, kann dieser Besucher gar nicht sagen: Bruder Johannes heißt er, ist Mitglied des Salesianer-Ordens Don Bosco in Bonn. Er hält oft an Autobahnkirchen an. "Wenn ich Zeit habe, verweile ich kurz und bete - für die, die selber nicht beten", erklärt er. Ob das nicht auch im Auto während der Fahrt geht? "Doch", meint Bruder Johannes, "aber in einem Andachtsraum ist es anders als im Auto." 


Anne Kampf ist Redakteurin bei evangelisch.de.