Karlsruhe: Meinungsfreiheit ist wichtiger als Konsum
Im Flughafen darf demonstriert werden - das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit gilt, ein Recht auf "Wohlfühlatmosphäre" gibt es dagegen nicht. So hat es das Bundesverfassungsgericht entschieden. Das Urteil geht weit über den konkreten Fall hinaus.
23.02.2011
Von Jochen Neumeyer

"Spannende Erlebnismöglichkeiten für Besucher" verspricht der Frankfurter Flughafen im Internet, und wirbt mit dem Slogan: "Airport Shopping für alle!" Eine andere Seite des Flughafens lernte Julia Kümmel kennen: Die 46-Jährige protestierte an einem Abfertigungsschalter gegen die Abschiebung von Flüchtlingen und verteilte Flugblätter. Der Bundesgrenzschutz beendete die Aktion, Kümmel erhielt "Flughafenverbot". Die Aktivistin wehrte sich - und erstritt vor dem Bundesverfassungsgericht ein Urteil, das weitreichende Auswirkungen auf Demonstrationen an Flughäfen und Bahnhöfen haben dürfte (Az. 1 BvR 699/06).

Demonstrationsrecht gilt auch im Flughafen

Das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit gelte auch im Frankfurter Flughafen, entschieden die Richter des Zweiten Senats. Der Flughafenbetreiber Fraport AG sei zwar privatrechtlich organisiert - da jedoch die öffentliche Hand die Mehrheit an dem Unternehmen hält, sei Fraport unmittelbar an die Grundrechte gebunden. Das bedeutet: Wo immer Bund, Länder oder Kommunen direkt oder indirekt die Kontrolle über ein Unternehmen haben, muss dieses Unternehmen die Grundrechte beachten.

Da es immer mehr Einkaufszentren, Ladenpassagen und ähnliches gebe, könnten diese nicht grundsätzlich von der Versammlungsfreiheit ausgenommen werden. Dies gelte auch für jene Bereiche des Flughafens, "die als Orte des Flanierens und des Gesprächs, als Wege zum Einkaufen und zu Gastronomiebetrieben ausgestaltet sind". Also: Im Terminalbereich und vor den Abfertigungsschaltern darf demonstriert werden, nicht jedoch im Abflugbereich, in den nur Passagiere nach der Sicherheitskontrolle hineindürfen.

Einschränkungen seien möglich, soweit es für die "Sicherheit und Funktionsfähigkeit des Flughafenbetriebs" notwendig ist - aber eben nur dann. Nicht ausreichend ist hingegen der Wunsch, "eine Wohlfühlatmosphäre in einer reinen Welt des Konsums zu schaffen, die von politischen Diskussionen und gesellschaftlichen Auseinandersetzungen frei bleibt", sagte der Vorsitzende des Zweiten Senats, Ferdinand Kirchhof, in der Urteilsbegründung. "Ein vom Elend der Welt unbeschwertes Gemüt des Bürgers ist kein Belang, zu dessen Schutz der Staat Grundrechtspositionen einschränken darf."

Hinterher gab es viel Lob: Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) betonte die Bedeutung der Versammlungs- und Meinungsfreiheit für die Demokratie. Die Pilotenvereinigung Cockpit - die 2009 selbst im Flughafen demonstrieren wollte - war zufrieden, und die Deutsche Polizeigewerkschaft auch. Selbst die Fraport AG, die sich in der mündlichen Verhandlung noch gegen alle Demonstrationen im Terminalbereich gewehrt hatte, wollte es nun als Erfolg verkaufen, dass die Sicherheit der Passagiere auch den Verfassungsrichtern am wichtigsten ist.

Folgen der Entscheidung

Was folgt aus der Entscheidung? Direkt anwendbar dürften die Grundsätze auf Demonstrationen in Bahnhöfen sein, die über eine Tochtergesellschaft der Deutschen Bahn AG gehören. Dort waren bislang keine politischen Demonstrationen erlaubt. Nun, so ein Sprecher, will das Unternehmen "das Urteil prüfen, um die nötigen Schlüsse zu ziehen".

Möglicherweise können sich auch Journalisten auf die Entscheidung berufen. "Die Freiheit der Berichterstattung ist ebenso wie die Versammlungsfreiheit ein demokratisches Grundrecht", so der Vorsitzende des Deutschen Journalisten-Verbands, Michael Konken. Vor allem Kameraleute seien häufig unter Berufung auf das Hausrecht Filmaufnahmen verboten worden. "Es kann nicht angehen, dass Demonstrationen in Flughäfen erlaubt sind, die Fotografen und Kameraleute aber draußen bleiben müssen."

Offen bleibt zunächst, ob die neuen Grundsätze auch dann gelten, wenn der Betreiber ein rein privates Unternehmen ist - wie bei vielen Einkaufszentren. Die Verfassungsrichter deuteten an, dass möglicherweise auch dann im Wege einer "mittelbaren Grundrechtsbindung" die Versammlungsfreiheit gelten könnte. Sie ließen die Frage jedoch ausdrücklich offen. Für Klägerin Julia Kümmel hingegen stand die Konsequenz aus dem Urteil sofort fest: "So lange weiter Menschen abgeschoben werden, werden wir weiter demonstrieren."

dpa