Alle Staaten Europas bekennen sich zu den Menschenrechten. Daher werden auch im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland die Rechte der Bürger nicht aus der Würde der Deutschen, sondern aus der Würde des Menschen begründet. Die Menschenwürde ist unteilbar. Menschenrechte gelten deshalb nicht nur für Deutsche, sondern für alle Menschen - auch für Flüchtlinge.
In der Realität allerdings haben Flüchtlinge in allen Nationalstaaten mindere Rechte als deren eigene Bürger. Ihre Aufnahme wird nur im Rahmen des "politisch Möglichen" gewährt. Vor allem, wenn die innere Ordnung und das Wohl der Bürger durch Zuwanderung gefährdet zu sein scheinen, verlieren die Rechte der Flüchtlinge politisches Gewicht. Wann jedoch ist eine solche Gefährdung wirklich gegeben, wann wird der Rahmen des "Möglichen" gesprengt?
Das Gebot der Nächstenliebe
Im politischen Streit über die Flüchtlingsaufnahme geht es um komplexe soziale, wirtschaftliche, kulturelle und politische Sachverhalte. Bei der Beantwortung der damit verbundenen Fragen gibt es in der Regel keinen verbindlichen Konsens. In freien Gesellschaften kann und muss daher dieser Streit in der politischen Willensbildung entschieden werden. Auch wenn es dabei nur Kompromisse zwischen verschiedenen Aspekten und Werten geben kann, werden in ihr doch fundamentale Entscheidungen über die moralische Qualität und Entwicklungsdynamik unseres Gemeinwesens gefällt.
Verletzungen der Menschenrechte richten sich gegen das humane Fundament unserer eigenen politischen Ordnung. Schutz vor Gefährdung an Leib und Leben ebenso wie das Recht auf Auswanderung und Flucht aus drückender Armut sind Menschenrechte! Die Verweigerung einer humanen Aufnahme von Flüchtlingen verleugnet das Gebot der Nächstenliebe - der Solidarität der Menschen mit Menschen. Offenheit für Flüchtlingsaufnahme und Asylgewährung sind zwingende moralische und ethische Vorgaben.
Eine epochale Herausforderung
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Diese Vorgaben werden heute für die politischen Führer und die Bürger Europas zu einer epochalen Herausforderung. Auf dem Hintergrund der Bevölkerungsexplosion im Nahen Osten und Afrika und politischer Unterdrückung, Armut und beruflicher Perspektivenlosigkeit der Jugend staut sich an den Südgrenzen Europas der Druck einer Massenflucht.
Die Antwort der Staaten der EU bildete bisher fast ausschließlich die immer dichtere Blockade der Zuwanderung von Flüchtlingen. Mit Hilfe des Auf- und Ausbaus der europäischen Grenzschutzagentur Frontex wurde die Überwachung der Grenzen verstärkt. Für Mitgliedsländer wie Griechenland oder zuletzt auch Italien, deren Behörden durch Masseninvasionen von Flüchtlingen überfordert worden waren, beschränkte sich die Hilfe der EU nur auf die Verbesserung der Grenzsicherung. Die schlimmen Mängel bei der Versorgung der Flüchtlinge standen nicht auf der Agenda. Zu Recht wurde von Pro Asyl hervorgehoben, dass die Flüchtlinge keine Polizisten benötigten, sondern Ärzte und Überlebenshilfe.
De Maizière verweigert humanitäre Hilfe
Die Rechnungen des deutschen Innenministers Thomas de Maizière, wonach Deutschland mehr Mittel als Italien für den Flüchtlingsschutz aufbringe und deshalb keine Veranlassung dafür bestünde, Italien bei der Versorgung der Flüchtlinge in Lampedusa zu unterstützen, kann nicht anders als eine Verweigerung humanitärer Hilfe interpretiert werden. Das Angebot verstärkter Polizeihilfe fiel der Bundesregierung dagegen nicht schwer.
Vorschläge der EU zur Vereinheitlichung und Humanisierung des Flüchtlingsrechts - so z. B. zur ärztlichen Versorgung oder für mitreisende Geschwister - konnten trotz Unterstützung durch die deutsche Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger bislang gegen den Widerstand in der Koalition und einiger Mitgliedsstaaten nicht durchgesetzt werden. So erging es auch Vorschlägen für ein "burden sharing", für einen Lastenausgleich unter den Mitgliedstaaten der EU zugunsten der vom Flüchtlingsdruck primär betroffenen Südstaaten.
Die Öffnung der EU für eine liberalere und humanere Flüchtlingsaufnahme hängt vorläufig immer noch in weitem Umfang von politischen Entwicklungen in den Mitgliedsstaaten ab. Dabei kommt der Flüchtlingspolitik Deutschlands, des wirtschaftlich mächtigsten und bevölkerungsmäßig größten Mitglieds, ein besonderes Gewicht zu.
Deutschland hinkt vergleichbaren Ländern hinterher
Ein positives Beispiel ist die großzügige und kluge Flüchtlingsaufnahme Schwedens. Von ihr könnte die deutsche Politik lernen. Die Politik Deutschlands hat derzeit aber keine Vorbildfunktion. Im Unterschied zur Bonner Republik, die fast zwölf Millionen deutscher Flüchtlinge integrieren konnte und im Kalten Krieg auch Tausende Flüchtlinge aus dem Herrschaftsbereich der Sowjetunion relativ großzügig und ohne nennenswerte Opposition aufgenommen hat, setzte im vereinigten Deutschland seit 1989 eine immer fugenlosere Abwehr von Flüchtlingen ein. Politisch sollten mit ihr die Aufnahme und der Verbleib von Flüchtlingen nichtdeutschen Volkstums in Deutschland verhindert werden.
Bilderbuchartig wurde dies durch die Behandlung der Flüchtlinge während des Kriegs in Jugoslawien veranschaulicht. Nachdem zunächst großzügig mehr als 300.000 Flüchtlinge Aufnahme fanden, schob man sie und ihre Kinder trotz des Bedarfs der Wirtschaft an Arbeitskräften sowie ungeachtet ihrer guten kulturellen und wirtschaftlichen Integration und auch gegen viele Proteste örtlicher Behörden nach Beendigung des Bürgerkriegs bürokratisch, ausnahms- und erbarmungslos in die Perspektivenlosigkeit ihrer Heimat wieder ab. Demgegenüber wurde in den USA und Schweden vielen Tausenden Flüchtlinge die Einwanderung erlaubt. Dafür bestand in Deutschland politisch keine Chance.
Für Flüchtlinge nur 40 Prozent der Sozialhilfe
Durch Veränderungen der Asylbestimmungen im Grundgesetz, durch verschärfte Grenzkontrollen, restriktive Anerkennungspraxis, abschreckende Lebensbedingungen in den Aufnahmelagern, das "Asylbewerberleistungsgesetz", das Flüchtlingen nur 40 Prozent der vom Verfassungsgericht für notwendig erachteten Sozialhilfe gewährt, sowie über eine gnadenlose Abschiebungspolitik und -praxis wurde die Aufnahme von Flüchtlingen immer weiter reduziert.
Wesentlich begünstigt wurde dies auch durch das Schengener Abkommen (Dublin 2). Nach ihm müssen Flüchtlinge sich in der EU im Land ihrer Einreise um Asyl bewerben und dürfen dorthin abgeschoben werden. Da Deutschland von EU-Ländern umgeben ist, wurde es durch die Geografie vor den Ansprüchen von Flüchtlingen geschützt. Während bis 1997 jährlich mehr als 100.000 Asylbewerber und Flüchtlinge eine Aufnahme beantragt hatten, verringerte sich ihre Zahl von noch 50.000 im Jahr 2003 auf 25.000 bis 30.000 in den folgenden Jahren. Von ihnen wiederum wurden nur 30 bis 40 Prozent, also jährlich maximal 10.000 bis 14.000 Personen, nach den Bestimmungen der Genfer Flüchtlingskonvention ein "geduldeter" Aufenthalt mit Schutz vor Abschiebung gewährt.
"Vorläufiger" Schutz - und "Duldung" ohne Ende
Da dieser Schutz "geduldeter" Flüchtlinge nur vorläufig - für die Dauer der Bedrohung im Heimatland - gewährt und deshalb immer neu überprüft wird, bewirkt er im Verein mit engstirnigen bürokratischen Kontrollen und Behinderungen der Arbeitsmöglichkeiten, menschenunwürdige langjährige "Kettenduldungen".
Dass es bislang trotz vieler politischer Bemühungen nicht gelungen ist, weitere Kettenduldungen zu verhindern und geduldeten Flüchtlingen samt ihren Familien sicherere und humanere Chancen des Verbleibs und der Integration in die deutsche Gesellschaft zu verschaffen, ist charakteristisch für den fremdenfeindlichen Zug der Flüchtlingsaufnahme Deutschlands. Die Bedingungen der Aufnahme sollen Bewerber abschrecken, und dies, obwohl Abschreckung wenig wirken kann, da ja die Ursachen der Flucht, nämlich politische Verfolgung und perspektivenlose Armut, durch die Abschreckung per se nicht beseitigt werden.
Positive Maßnahmen der Flüchtlingspolitik waren Kontingentlösungen wie etwa die Aufnahme vietnamesischer "Boat-People" - bislang die erfolgreichste Einwanderungsgruppe Deutschlands - oder auch jüngst die Aufnahme besonders gefährdeter irakischer Christen auf Betreiben des ehemaligen Bundesinnenministers Wolfgang Schäuble. Dies gilt auch für die zeitweilige Erleichterung der Arbeitssuche und des Erwerbs eines Bleiberechts für geduldete Flüchtlinge. Als Beitrag zur Humanisierung der derzeitigen Fluchtbewegungen haben die jetzt von dem Bundestagsabgeordneten Sebastian Edathy (SPD) vorgeschlagenen Kontingente für Flüchtlinge aus Tunesien vielleicht eine reale Chance. Sie bieten immerhin einer begrenzten Zahl von Flüchtlingen eine Aufnahme.
Nötig ist der Abschied von der völkischen Ideologie
Richtiger wäre eine Änderung des Zuwanderungsrechts, die allerdings derzeit politisch nicht durchsetzbar ist. Es ist hier anzumerken, dass politische Flüchtlinge in der Regel eine überdurchschnittliche Ausbildung haben. Die Energie, mit der sie ihre Flucht gegen viele Hindernisse erkämpfen müssen, macht sie nach allen bisherigen Erfahrungen zu einem bedeutenden Gewinn für ihre Aufnahmegesellschaften.
Die Gesamtbilanz des Flüchtlingsschutzes Deutschlands ist bedrückend. Dies kann im Heimatland des Holocausts nicht einfach hingenommen werden. "Vergangenheitsbewältigung", die sich darauf beschränkt, die millionenfache Schändung der Menschenrechte im Holocaust in gelehrten Studien und Gedenkreden "aufzuarbeiten", hat nur einen begrenzten Wert. Eine echte, nicht nur museale Aufarbeitung bedeutet, neuerlichen Schändungen der Menschenrechte Einhalt zu bieten.
Dafür sollten auch die große Bereicherung Deutschlands durch die millionenfache Einwanderung der Nachkriegszeit und die positiven Erfahrungen der klassischen Einwanderungsländer behilflich sein. Notwendig ist hierfür allerdings der entschlossene Abschied von der unrühmlichen völkischen Ideologie der Vergangenheit, die nur "Volksgenossen" einen legitimen Platz in der Nation einräumen will. Auch Flüchtlinge nichtdeutschen Volkstums sind Menschen mit Rechten.
Der Politikwissenschaftler Prof. Dieter Oberndörfer (81) ist Vorsitzender des Vorstands des Arnold-Bergstraesser-Instituts für kulturwissenschaftliche Forschung in Freiburg. Er lehrte bis zu einer Emeritierung 1997 an der Universität Freiburg im Breisgau. 1974 bis 1989 war er zudem Mitglied der Kammer der EKD für Kirchlichen Entwicklungsdienst. Er gilt als Experte für Entwicklungshilfe, Nationalismus, Migration und Demografie.