Seelsorger und Moderator an der EKD-Spitze
Die Übergangszeit, die in der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) auf den Rücktritt von Margot Käßmann folgte, war am 9. November vergangenen Jahres vorbei - und in der verunsicherten Kirche ein Aufatmen spürbar. Mit einer überzeugenden Mehrheit wählten Synode und Kirchenkonferenz Nikolaus Schneider zum Spitzenrepräsentanten der rund 24 Millionen Protestanten im Land der Reformation. Der neue EKD-Ratsvorsitzende ist seit 100 Tagen im Amt.
17.02.2011
Von Rainer Clos

Die zurückliegenden Monate nutzte der rheinische Präses, um in dem ihm eigenen Stil deutliche Akzente zu setzen. Am wenigsten überrascht dabei, dass Schneider sich immer wieder dezidiert für soziale Gerechtigkeit einsetzt. Denn die Frage, wie die Gesellschaft mit Armen und Fremden umgeht, und das Engagement für Benachteiligte sind für den 63-jährigen Theologen, der aus einfachen Verhältnissen stammt, ein Leitthema.

Die Kirche habe aus dem Evangelium heraus zum Zustand der Welt etwas zu sagen, sagt Schneider. Ganz besonders, wenn es um Leben und Sterben, um Krieg und Frieden geht. Schneiders Amtsvorgängerin Käßmann hatte in ihrer Neujahrspredigt 2010 den Bundeswehr-Einsatz am Hindukusch heftig kritisiert. Vor allem ihr Satz "Nichts ist gut in Afghanistan" hatte eine breite gesellschaftliche Debatte ausgelöst.

Afghanistan: "Hoffnung auf dünnem Eis"

Vor zwei Wochen machte Schneider sich mit einer EKD-Delegation ein Bild davon, was los ist in Afghanistan, wo seit bald zehn Jahren deutsche Soldaten im Einsatz sind. Nach seinem Besuch bei der Truppe bewertet Schneider den Einsatz der deutschen Soldaten am Hindukusch differenzierter. Es gebe "Hoffnung auf dünnem Eis", lautet eine Erfahrung.

Für die Soldaten, die ihre Knochen hinhalten und mit der Frage von Schuld ringen, fordert Schneider mehr Solidarität in der Gesellschaft. Zugleich warnt er vor einer Besatzer-Rolle und mahnt zum baldigen Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan. Doch von Entwicklungshelfern habe er gelernt, dass die militärische Präsenz für die Absicherung des zivilen Aufbaus derzeit noch gebraucht werde. "Ich komme aus dem Dilemma nicht heraus", sagt er.

Gelassener als die Vorgänger

Nach der dynamischen Unruhe unter seinen beiden Vorgängern im Ratsvorsitz - Käßmann und Wolfgang Huber - geht es unter Schneider gelassener zu. Er polarisiert nicht, sondern bringt Menschen zusammen und moderiert zwischen unterschiedlichen Positionen. Auf bedächtige Art weiß er zu überzeugen. Für existenzielle Fragen, wie er sie auch selbst mit dem Tod seiner Tochter erlebte, hat der Theologe, der sich vor allem als Seelsorger versteht, ein ausgeprägtes Gespür.

Deshalb wirbt er auch für seelsorgerliches Einfühlungsvermögen in der Kontroverse über die Gentests an Embryonen, die sogenannte Präimplantationsdiagnostik (PID). Die EKD hatte in ihrer Beschlusslage aus dem Jahr 2003 gefordert, die Genuntersuchung künstlich gezeugter Embryonen zu verbieten. Schneider argumentiert, die Kirche müsse auch die Konflikte und Nöte der betroffenen Eltern berücksichtigen.

In dieser Debatte hat der Ratsvorsitzende mit seinem Vorstoß, über die Linie der evangelischen Kirche zur PID neu nachzudenken, am meisten riskiert. Mit seinem Eintreten für eine Öffnung in eng begrenzten Fällen erntet Schneider Widerspruch in den eigenen Reihen etwa von Synodenpräses Katrin Göring-Eckardt und Bayerns Landesbischof Johannes Friedrich, aber auch von katholischen Bischöfen. Sein Anliegen wird nach einer Annäherung der unterschiedlichen Standpunkte in einer leicht modifizierten neuen EKD-Position aufgenommen.

In der Ökumene Farbe bekennen

Die Ökumene sei ihm sehr wichtig, sagt Schneider. Aber er weiß auch: "Ökumene können Kirchenleitungen nicht 'machen'." Das hindert ihn nicht, im evangelisch-katholischen Dialog über die altbekannten Streitpunkte wie Abendmahl, Amt und Kirchenverständnis Farbe zu bekennen.

Den anstehenden Deutschland-Besuch von Papst Benedikt XVI. wertet er als "herausragendes ökumenisches Ereignis". Noch bevor das Besuchsprogramm in allen Einzelheiten festgezurrt ist, formuliert der EKD-Ratsvorsitzende, was sich die evangelische Kirche von der Visite wünscht. Wenige Jahre vor dem 500. Jahrestag von Martin Luthers Thesenanschlag wäre es "reizvoll und ergiebig", sich über die Bedeutung der Reformation aus evangelischer und katholischer Perspektive auszutauschen, lässt der EKD-Repräsentant das Oberhaupt der katholischen Kirche wissen. Und er liefert auch gleich einen Vorschlag mit, wo das Spitzentreffen stattfinden könnte: im ehemaligen Augustinerkloster in Erfurt.

epd