Melanies Fall hatte bundesweit für Bestürzung gesorgt: Die 23 Jahre alte Floristin aus der Nähe von Peine suchte vergangenen Oktober in einem regionalen sozialen Netzwerk eine Freundin - und geriet an einen Mann, der sie grausam umbrachte. Am Montag beginnt vor dem Landgericht Hildesheim der Prozess gegen den 27 Jahre alten mutmaßlichen Mörder. Er soll sich unter dem Pseudonym «Sarah» mit Melanie im Internet angefreundet haben, um sie in seine Wohnung zu locken. Dort tötete er die junge Frau mit Messerstichen in Brust und Hals, als sie sich gegen eine Vergewaltigung wehrte.
Dass Mörder gezielt im Internet nach Opfern suchen, sei nach wie vor aber selten, sagt Rita Salgmann vom Landeskriminalamt Niedersachsen (LKA) in Hannover. "In 85 Prozent der Tötungsdelikte kommt der Täter aus dem Umkreis des Opfers", betont die Leiterin der Zentralstellen Gewalt, Eigentum, Prävention und Jugendsachen. Nach ihrer Beobachtung sind allerdings die meisten Menschen viel zu sorglos mit dem, was sie im Internet von sich preisgeben - von genauen Angaben der Adresse bis zu peinlichen Fotos. "Die 20- bis 40-Jährigen sind naiver als Kinder, die in der Schule über die Gefahren des Internets aufgeklärt werden."
Bei Treffen im wahren Leben vorsichtig sein
26 und 39 Jahre alt waren auch die Opfer des sogenannten Internet-Mörders, der 2009 in Essen zu lebenslanger Haft verurteilt wurde. Der Hamburger hatte über Chatrooms Kontakte zu mehr als 300 Frauen geknüpft. Im Juni 2008 ermordete er die 39-Jährige im nordrhein-westfälischen Marl, im Juni tötete er die 26 Jahre alte Berlinerin, als sie sich mit ihrem Internetbekannten in Stade traf. Die genaue Todesursache ist unklar, weil die Leiche erst in stark verwestem Zustand gefunden wurde.
Nie die eigene Adresse verraten, für das erste Date immer einen öffentlichen Treffpunkt vereinbaren und eine Begleitperson mitnehmen: Das sind Grundregeln, mit denen sich Frauen vor Übergriffen schützen können. Vorab Hinweise auf im Internet angebahnte Verbrechen zu finden, sei dagegen nahezu unmöglich, sagt Frank Puschin, der die Zentralstelle Internetkriminalität im niedersächsischen LKA leitet. "Gespräche zwischen Täter und Opfer finden meist in separaten Räumen statt. Da kann keiner mitlesen."
Der mutmaßliche Mörder von Melanie soll sich erst wenige Tage vorher unter dem Frauennamen "Sarah" in dem sozialen Netzwerk angemeldet haben. Wie später bekannt wurde, sei das Profil unter seinem richtigen Namen unauffällig gewesen, berichtet der Polizeihauptkommissar. "Da hieß es: ist interessiert an Frauen, sucht Freundschaft, Dating, auf der Suche nach Freundschaft." Gemeinsam mit sechs Kollegen geht Puschin für das LKA in der virtuellen Welt auf Streife, um Straftaten aufzuspüren. Es geht um Betrug, Beleidigung, Rechts- und Linksextremismus und häufig um Kinderpornografie.
Falsche Identitäten als Teil der Spaßkultur
Nicht nur junge Frauen sind betroffen. "Chatrooms, wo Kinder sind, ziehen Pädophile an", betont Experte Puschin. "Wenn man sich als Kind in solchen Chatrooms aufhält, wird man angesprochen." Auch um sich Kindern zu nähern, wenden Pädophile Tricks mit falschen Identitäten an. So geben sie sich beispielsweise erst als junges Mädchen aus, das einen tollen Model-Agenten kennengelernt hat. Dann versuchen sie, in der Rolle des Agenten Kontakt zu knüpfen. Einem kleinen Jungen wird ein Besuch in der Kabine von Bayern München versprochen und so weiter. Viele Straftaten im Bereich der sexuellen Nötigung kommen laut Puschin erst gar nicht zur Anzeige: "Anzügliche Bemerkungen finden chattende Kinder fast normal."
Für den Polizeipsychologen Adolf Gallwitz liegt die Gefahr darin, dass sich die Benutzer daran gewöhnt haben, dass in sozialen Netzwerken gelogen wird. "Die Tendenz, sich dort unter falscher Identität zu tummeln, ist naheliegend - mit oder ohne kriminelle Absichten", sagt der Professor von der Polizeihochschule Villingen-Schwennigen. "Die falschen Accounts sind Teil der Spaßkultur." In den meisten Fällen ist die Täuschung im Internet ein Spiel. Für Melanie wurde sie zur Todesfalle.