Nach klassischer christlicher Überzeugung ist die Heilige Schrift die ausschlaggebende Grundlage und Norm alles christlichen und kirchlichen Lehrens und Lebens. Allerdings kann man eine christliche Ethik nicht einfach mit dem Argument begründen, dass etwas "in der Bibel steht". Denn der biblische Kanon aus Altem und Neuem Testament mit seinen zahlreichen ganz unterschiedlichen Prinzipien, Gesetzen und Anweisungen weist eine innere Logik auf, die unbedingt beachtet werden muss. Nicht alle biblischen Imperative sind für den christlichen Bibelleser gültig.
Mose ist tot
Weite Teile der Bücher Exodus, Levitikus, Numeri und Deuteronomium bestehen aus Gesetzestexten. In der rabbinischen Literatur heißt es, das Gesetz des Mose enthalte insgesamt 613 Gebote. Neben den sogenannten Zehn Geboten, die das Zentrum des gesamten Gesetzes darstellen (Ex 31,18; Dtn 9,10), stehen Opfergesetze, Speisegesetze, Strafgesetze und vieles mehr.
All diese Gesetze waren für das biblische Volk Israel verbindlich, haben aber aus christlicher Sicht mit dem Kommen des Messias Jesus ihre unmittelbare Gültigkeit verloren. Dem einstimmigen Zeugnis der Evangelien zufolge hat Jesus sich über die Sabbatgebote hinweggesetzt (Mt 12,1-14 par). Er tat dies in dem Bewusstsein, in einer höheren Autorität zu wirken als Mose und eine neue Phase der Heilsgeschichte zu eröffnen, in der das alttestamentliche Gesetz durch das Evangelium überboten wird (Lk 16,16).
Der Apostel Paulus hat das mosaische Gesetz ebenfalls als eine notwendige aber durch das Kommen des Messias abgeschlossene Phase der Heilsgeschichte Gottes mit seinem Volk und der Menschheit angesehen (Gal 3,19-20.23-26; 4,4-5; 5,1 u. ö.). "Christus ist das Ende des Gesetzes" (Röm 10,4). Der alte Bund, zu dem das Gesetz des Mose gehörte, wurde mit dem Kommen Christi beendet (Hebr 8,13).
Besonders markant hat Martin Luther sich in seiner im August 1525 gehaltenen Predigt "Eine Unterrichtung wie sich die Christen in Mose sollen schicken" zur Freiheit des Christen vom alttestamentlichen Gesetz geäußert: "Das Gesetz Moses geht die Juden an, es bindet uns somit von vornherein nicht mehr". Außerdem: "Mose ist tot, sein Regiment ist aus gewesen, als Christus kam; seither gilt er nicht". Diese Aussagen bezog Luther auch auf den Dekalog. Die Zehn Gebote seien nur dem Volk gegeben worden, das Gott aus Ägypten herausgeführt hat (Ex 20,2).[1]
Aus diesem Grund spricht theologisch nichts dagegen, dass Christen am Sabbat Holz sammeln (vgl. Num 15,32-36) und ein Feuer anzünden (vgl. Ex 35,3), um ein Stück Schweinfleisch zu braten und zu essen (vgl. Lev 11,7), und ein Glas Milch dazu trinken (vgl. Ex 23,19).
Liebe und tu was du willst
Wer im Neuen Testament nach einem ethischen Maßstab sucht, der an die Stelle des mosaischen Gesetzes tritt, stößt auf das Liebesgebot. Die zahlreichen alttestamentlichen Gesetze, die das zwischenmenschliche Verhalten regeln sollten, werden von Jesus in der Bergpredigt in einem Gebot zusammengefasst: "Alles, was euch die Menschen tun sollen, das tut ihr ihnen auch! Denn darin besteht das Gesetz und die Propheten" (Mt 7,12; vgl. 22,40).
Nach Paulus gilt für die christliche Ethik die Regel: "Seid niemandem irgendetwas schuldig, als nur einander zu lieben; denn wer den anderen liebt, hat das Gesetz erfüllt". Die zwischenmenschlichen Gebote der sogenannten zweiten Tafel des Dekalogs lassen sich durch eine einzige ethische Zentralanweisung zusammenfassen, die unter den zahlreichen alttestamentlichen Einzelgeboten nur eine relativ untergeordnete Rolle gespielt hat: "Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst" (Lev 19,18). Anders gesagt: "Die Liebe tut dem Nächsten nichts Böses" (Röm 13,8-13). Dieses Liebesgebot bezeichnet Paulus als das "Gesetz Christi" (Gal 6,2; vgl. 5,14). Wer sich konsequent an dieses eine christliche Zentralgebot hält, braucht sich um die vielen Einzelgesetze des Pentateuch nicht mehr zu kümmern.
Das ist der biblische Hintergrund der berühmten Aussage Augustins, der im Jahr 415 n. Chr. in seiner Auslegung von 1 Joh 4 betont hat, die menschlichen Taten müssten danach beurteilt werden, ob sie aus Liebe geschehen. Daraus folgerte er: "Liebe und tu was du willst". Denn der Wurzel der Liebe könne nur Gutes entspringen.[2]
Er schuf sie als Mann und Frau
Allerdings ist das Liebesgebot nicht die einzige Grundregel, die Jesus und Paulus bei der Begründung ihrer ethischen Anweisungen angewandt haben. Im Liebesgebot sahen sie zwar die Zusammenfassung des alttestamentlichen Gesetzes – aber nicht des gesamten Alten Testaments, an dessen Anfang die Schöpfungsgeschichte steht. Das, was in Genesis 1-2 über die Erschaffung des Menschen ausgesagt wird, ist weder von Jesus noch von Paulus jemals in Frage gestellt worden.
Im Blick auf das Verhältnis der Geschlechter und die Sexualethik finden sich in der Schöpfungserzählung zwei Grundaussagen: "Gott schuf den Menschen nach seinem Bild … Er schuf sie als Mann und Frau" (Gen 1,27). Und: "Darum wird ein Mann … seiner Frau anhängen, und sie werden zu einem Fleisch werden" (Gen 2,24). Anhand dieser Stellen hat Jesus die Frage nach der Ehe, der Ehescheidung und dem Ehebruch beantwortet (Mt 19,1-12 par). Aufgrund dieser beiden Kapitel hat auch Paulus seine sexualethischen Aussagen entwickelt.
In der neutestamentlichen Ethik gehören das Liebesgebot und die Schöpfungsordnung zusammen. Für die christliche Geschlechterethik ist daher auch die schlichte Beobachtung maßgebend, dass Gott im Paradies nicht einen Adam und zwei Evas oder eine Eva und zwei Adams geschaffen hat. Wäre die Schöpfungserzählung ethisch nicht relevant, könnte man argumentieren: Eine Mehrehe ist zulässig, wenn sie gemäß dem Liebesgebot in allseitigem Einverständnis geschlossen wird und von gegenseitigem Respekt und Treue getragen wird. In der Heiligen Schrift gilt aber ein durch Gottes Schöpferwillen markierter Rahmen, den die Geschöpfe auch nicht unter Berufung auf das Liebesgebot übertreten dürfen.
Aus diesem Grund kam es weder für Augustin noch für Luther in Frage, die Erschaffung des Menschen als Mann und Frau für theologisch überholt zu erklären. Das, was Gott "sehr gut" gemacht und geordnet hat, wird weder von der Erkenntnis, dass Christus das Ende des Gesetz ist, noch von der Überzeugung, dass die vielen Einzelgesetze im Gebot der Nächstenliebe eine legitime Zusammenfassung haben, überholt.
Unnatürlicher Geschlechtsverkehr
Dieser biblischen Logik folgen auch die Aussagen, mit denen Paulus im Römerbrief einen homosexuellen Lebensstil kritisiert: "Ihre Frauen haben den natürlichen Geschlechtsverkehr in den unnatürlichen verwandelt. Ebenso haben auch die Männer den natürlichen Geschlechtsverkehr mit Frauen verlassen, sind in ihrer Begierde zueinander entbrannt, indem sie Männer mit Männern Schande trieben, und empfingen den gebührenden Lohn ihrer Verirrung an sich selbst" (Röm 1,26-27).
Paulus war der Überzeugung, dass homosexuelles Verhalten nicht "natürlich" ist, sondern von "der Natur" abweicht. Den Maßstab für das, was "natürlich" und "unnatürlich" ist, entnahm Paulus als frommer Jude der biblischen Schöpfungsgeschichte, der zufolge Gott im Paradies nicht Adam durch einen zweiten Adam oder Eva durch eine zweite Eva, sondern Adam durch Eva ergänzt hat.
Gegen diese klassische christliche Deutung von Röm 1 wird eingewandt, Paulus habe sich nur gegen homosexuelle Handlungen heterosexuell veranlagter Personen ausgesprochen. Den homosexuellen Lebensstil homosexuell Veranlagter habe er dagegen implizit akzeptiert. Dieses Argument scheitert daran, dass Paulus seine Position schöpfungstheologisch begründet hat. Nach Paulus hat jeder Mensch unabhängig von seiner sexuellen Veranlagung zu akzeptieren, dass der Schöpfer nur Frau und Mann für einander bestimmt hat.
Ein anderer Einwand lautet, Paulus habe sich nur gegen ausbeuterische Formen der Homosexualität gewandt. Den einvernehmlichen Geschlechtsverkehr zwischen zwei Erwachsenen gleichen Geschlechts habe der Apostel gar nicht gekannt. Wenn er ihn gekannt hätte, hätte er nichts dagegen gehabt. Allerdings hat es in der römischen Antike durchaus exklusive, dauerhafte und eheähnliche homosexuelle Beziehungen zwischen Männern gegeben.[3] Vor allem aber setzt dieser Einwand voraus, dass Paulus sich bei seinen sexualethischen Entscheidungen ausschließlich am Liebesgebot orientiert hat. Diese Einschätzung wird der paulinischen Ethik nicht gerecht. Paulus hat die anthropologischen Grundaussagen in Gen 1,27 und 2,24 nie in Frage gestellt, auch nicht im Namen des Liebesgebots.
Homosexuelle Paare im Pfarrhaus
Was folgt aus diesen exegetischen und hermeneutischen Überlegungen für homosexuell veranlagte Christen?[4] Selbstverständlich können sie Mitglied einer christlichen Kirche bzw. Gemeinde sein. Allerdings sind sie herausgefordert, auf homosexuelle Beziehungen zu verzichten – genauso wie unverheirateten heterosexuellen Christen verwehrt ist, ihre Sexualität außerhalb einer Ehe auszuleben.
Können Christen mit homosexueller Orientierung Pastoren oder Pfarrer sein? Selbst wenn eine Gemeinde sich nach reichlichem Prüfen und Abwägen zu einem solchen Schritt entschließt, bleibt die unerlässliche Voraussetzung auch in diesem speziellen Fall, dass die Vorgabe des Schöpfers gewahrt wird, die keine homosexuellen Beziehungen vorsieht – schon gar nicht im Leben eines Geistlichen, der ein besonders exponiertes Vorbild für andere ist.
Anmerkungen:
[1] WA XVI 363-393 (hier 371 und 373).
[2] Augustinus, Tractatus in epistolam Ioannis ad Parthos 7,8 (PL 35, 2033).
[3] Vgl. John Boswell, Christianity, Social Tolerance, and Homosexuality. Gay People in Western Europe from the Beginning of the Christian Era to the Fourteenth Century. Chicago 1980, 82-87.
[4] Siehe dazu ausführlicher Richard B. Hays, The Moral Vision of the New Testament. A Contemporary Introduction to New Testament Ethics. San Francisco 1996, 379-406.
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Prof. Dr. Armin D. Baum ist Professor für Neues Testament an der Freien Theologischen Hochschule Gießen und der Evangelisch-Theologischen Fakultät Leuven.