Das vererbte Trauma – Die Kinder der Kriegskinder
Sie sind in den Aufbaujahren der Bundesrepublik zur Welt gekommen und kennen den Krieg nur aus den Erzählungen ihrer Eltern: Die Kinder der Kriegskinder. Doch sie erben von ihren Eltern nicht nur den hart erarbeiteten Wohlstand. Die Traumata des Krieges setzen sich fort in den Nachkriegsgenerationen und erzeugen noch bei den heute 40- bis 55-Jährigen Ängste und Gefühle der Einsamkeit und Entwurzelung. Die Psychotherapeutin und Autorin Bettina Alberti ist den Spuren der Kriegs-Traumata in zahlreichen Biografien nachgegangen. "Unsere Eltern räumten die Trümmer der zerstörten Häuser mit den Händen weg - wir, die nächste Generation, sind mit dem Aufräumen der seelischen Trümmer beschäftigt", so beschreibt eine Frau die unbewältigten Folgen des Krieges.
13.02.2011
Die Fragen stellte Kathrin Althans

Man kann sich vorstellen, dass Menschen, die die Schrecken des Krieges, wie die Bombardierung Dresdens, unmittelbar erlebt und überlebt haben, für den Rest ihres Lebens davon geprägt sind. Sie erleben als Psychotherapeutin, dass auch die Kinder dieser Generation Ängste und Verletzungen in sich tragen, die von den Erfahrungen ihrer Eltern her rühren. Wie äußern sich diese Kriegswunden in den Nachkriegsgenerationen?

Bettina Alberti: Die Kinder der Kriegsgeneration, die in den 50er-, 60er-Jahren Geborenen, sind oft auf einer ganz subtilen emotionalen Ebene mit den Reaktionen ihrer Eltern konfrontiert gewesen. Viele Menschen haben mir berichtet, wie sehr sie von Ängsten belastet waren, die die Eltern ausstrahlten. Oder dass sie überschwemmt wurden von Kriegserzählungen der Eltern, weil diese ein großes Bedürfnis hatten, immer wieder zu erzählen, um sich zu entlasten.

Da gibt es also unterschiedliche Reaktionsmuster bei der Generation der unmittelbar vom Krieg Betroffenen?

Alberti: Ja, es gibt einerseits den Mechanismus des Rückzugs bei traumatischen Erfahrungen, dass Menschen sich verschließen und innerlich erstarren. Ein anderer, ebenso belastender Versuch der Verarbeitung ist, sehr viel davon zu sprechen. Das ist eine Suche nach Halt bei anderen Menschen. Wenn das die Kinder betrifft, sind diese natürlich überfordert, weil sie einen solchen Halt nicht geben können.

Und wie setzt sich das dann fort durch die Generationen?

Alberti: Menschen suchen Wege, um traumatische Erfahrungen handhaben zu können. Das nennen wir in der Psychotherapie Trauma-kompensatorische Muster. Diese Verhaltensmuster wirken auf die Angehörigen, die Menschen, die in unmittelbarer Bindung miteinander stehen. So erlebt ein Kind beispielsweise die seelische Verschlossenheit der Mutter, ihre Angst, ihren Schrecken, oder aber gewalttätige Entgleisungen des Vaters – das heißt, es wird sekundär traumatisiert. Nicht unmittelbar durch den Krieg, wie die Mutter oder der Vater, aber durch deren Reaktionen, die unmittelbar zusammenhängen mit den elterlichen traumatischen Erfahrungen. So muss auch das Kind selbst wieder Bewältigungsmuster entwickeln, um die eigene Überforderung zu kompensieren. Es entsteht eine Art transgenerationale Kette von Trauma-kompensatorischen Wegen. Die Folgen zeigen sich in innerer Einsamkeit, Ängsten, mangelndem Selbstbewusstsein, in selbstauferlegtem Leistungsdruck oder Entwurzelung.

Innerfamiliäre Kriege

Und dabei wird gar nichts wirklich verarbeitet – und die Traumatisierung bleibt bestehen?

Alberti: Weiterentwicklung ist möglich – zum Glück! – wenn die realen Bedrohungssituationen aufhören. Die nächste Generation hat ja dann keinen realen Krieg mehr erlebt. Aber sie hat innerfamiliäre Kriege, nicht integrierte Schattenseiten und Kompensationsmuster erlebt und zum Teil fortgesetzt.

Dieses Phänomen rückt in den letzten Jahren stärker in den Fokus der Öffentlichkeit – weil die Betroffenen diese Belastungen jetzt erst wahrnehmen, oder woran liegt das?

Alberti: Ich glaube das liegt auch daran, dass sich die Schuldthematik inzwischen weiterentwickelt hat, dass die kollektive Schuld in Frage gestellt werden kann. Das führt dazu, dass Trauer, Schmerz und konkrete Erfahrungen benannt werden können – auch in der Generation der jetzt alten Menschen. Es ist verständlich, dass es die kollektive Schuldzuweisung gab. Sie ist Ausdruck des Zorns, der Trauer und des Schmerzes über die unglaubliche Gewalt und die Verbrechen, die geschehen sind. Aber es gibt eine Weiterentwicklung, und das ist auch gut so.

Jenseits der Grundannahme, dass alle Deutschen nach wie vor diese Schuld und diesen Makel tragen?

Alberti: Ja, ich glaube, das hat sich verändert. In dem Maße, wie das Kriegsgeschehen langsam verarbeitet wurde, können sich die Menschen auch wieder öffnen. Es steht nicht mehr der kollektive Aspekt so im Vordergrund, dass die Deutschen – es gibt da den Begriff des Tätervolkes – für immer ein Tätervolk bleiben aufgrund der Verbrechen im Nationalsozialismus. Allerdings richte ich in meinem Buch den Blick vor allem auf die Kriegskindergeneration und ihre Nachkommen, das sind nicht die nationalsozialistischen Täter – und das ist wichtig zu unterscheiden.

Ich glaube, es gibt mittlerweile eine Differenzierung im Bewusstsein und im Denken. Das Thema war vorher durch die Massivität des Schreckens und der Zerstörung und durch die real bestehende und kollektiv zugewiesene Täterschaft blockiert. Das wirkte wie ein Riegel, der Riegel der Schuld, der sich jetzt lockert. Er hat verhindert, über eigene Trauer und eigenen Zorn sprechen zu können. Denn wer schuldig ist, so heißt es, hat kein Recht zu klagen. Das ist der Riegel. - 

Täter und Opfer

Wie kann man dann den Blick so auf die einzelnen Schicksale der Familien richten, ohne diese anderen Opfer der nationalsozialistischen Herrschaft zu relativieren?

Alberti: Es geht eben nicht um Relativieren, das sollte gar nicht die Frage sein. Sondern darum zu benennen, wie es ist, wie die Familien es erlebten, alle Aspekte: Täterschaft, Trauer, Verluste, Verfolgung. Bei einigen der Interviews in meinem Buch ging es um Familien mit jüdischen Vorfahren auf der einen Seite und nationalsozialistischen Tätern auf der anderen Seite der Großelterngeneration. Das heißt, die in den 50er- und 6oer-Jahren geborenen Nachkommen hatten in ihrer Familienbiografie beides, sowohl die Not und die Schrecken der Verfolgung, als auch die Täterschaft. Dieses Wissen bewirkt auch bei den Nachkommen ein hohes inneres Spannungsfeld, weil sie sich mit beiden Seiten in irgendeiner Weise identifizieren.

Wie gehen die Betroffenen dann damit um?

Eine heute 50-jährige Frau zum Beispiel hatte erst mit 14 Jahren erfahren, dass ihr Vater aus einer jüdischen Familie kam, die Mutter hatte nationalsozialistisch orientierte Eltern. Die sagt: „Ich gehöre bezüglich der Vergangenheit meiner Familie nicht nur zur Täterseite, ich gehöre auch zur Opferseite. Als Jugendliche dachte ich: Ich brauche mich nicht nur zu schämen für meine Vergangenheit, und das entlastete mich.“ Es hat natürlich etwas Absurdes, wenn man bedenkt, dass die Opferseite massive Schrecken und Vernichtungserfahrungen bedeutet ...

... dass das was Entlastendes sein soll ...

Alberti: Ja, aber es ist verständlich, weil sie sich mit dem Schrecken identifizieren kann und dadurch die Schuldseite der Familie in ihrem Erleben geringer wird – da kann man sehen, wie schwer die in ihr wiegt. Aber das kann natürlich der Weg nicht sein; der Weg ist, einen Raum zu finden, um beide Seiten in Ruhe anschauen zu können, zu fühlen und zu realisieren, was in der Familie eigentlich passiert ist.

Kein Handel mit Schicksalen

Das hat sonst fast was von einem Ablasshandel, zu sagen: Ich habe ja auch ein Leben geopfert oder verloren, da kann mich ja die Strafe für anderes nicht so hart treffen.

Alberti: Aber genau das geht nicht, wir können keinen Handel treiben mit diesen Themen, mit den Schicksalen anderer Menschen. Aber es ist interessant, dass diese Frau es als Jugendliche so empfunden hat und sich selber so sieht: "Ich gehöre zur Täterseite und zur Opferseite" – und sie ist 1960 geboren!

Nun gibt es ja durchaus Kinder von Kriegskindern, Angehörige dieser Generation, die scheinbar ganz unbelastet durchs Leben gehen. Sind das die Ausnahmen, die robust reagieren, oder haben die das dann besonders tief verdrängt?

Alberti: Das kann beides sein: Entweder jemand verdrängt die Familienbiografie stark, weil sie zu schmerzlich ist und möchte nicht daran rühren. Derjenige geht sozusagen innerlich darüber hinweg – mit Recht, das finde ich wichtig zu betonen, denn traumatische Erfahrungen können uns wirklich wie zu einem seelischen Sterben bringen. Oder aber die Menschen haben gute Ressourcen, diese Belastungen tragen zu können. Diese sogenannten Resilienzfaktoren – was Menschen mitbekommen haben und entwickeln konnten an guten Kräften und Schutzfaktoren – sind sehr unterschiedlich.

Was unterscheidet diese sehr schmerzhaften, einschneidenden Erfahrungen der unmittelbar vom Krieg Betroffenen oder ihrer Nachfahren denn von anderen Schicksalsschlägen? Ist das ein qualitativer Unterschied, oder kann man sagen, da sind einfach ganz besonders viele traumatische Erfahrungen gemacht worden in dieser Zeit?

Alberti: Kriegserfahrungen sind eine der schlimmsten Formen psychischer Traumatisierung überhaupt, die Menschen erleben – und auch selber herstellen. Krieg ist ein sogenanntes „man made desaster“, eine von Menschenhand gemachte Katastrophe, anders als ein Tsunami oder ein Verkehrsunfall. Das ist ein großer Unterschied.

Der zweite Punkt betrifft die Dauer und das Ausmaß, beispielsweise beim Zweiten Weltkrieg: Die Erfahrungen von Bedrohung, Gewalt, Not und möglichen oder realen Verlusten gingen über Jahre. Das ist anders als bei einem punktuellen Schicksalsschlag – ohne jetzt eine solche Erfahrung in ihrem Leid abschwächen zu wollen. Krieg dauert an. Er erzeugt permanente Angst, die vor allem für Kinder schwer zu handhaben ist. Zudem erleben Kinder auch noch die Ängste der Erwachsenen, ihrer Bezugspersonen. Das ist schwer zu verarbeiten, weil es chronisch überfordert.

Ein anderer wichtiger Punkt ist, dass der Zweite Weltkrieg in der Bevölkerung bejaht wurde, er wurde von der herrschenden Führung initiiert, gewollt und propagiert. Dadurch befanden sich die Menschen in einem kollektiven Geschehen, in dem andere Seiten nicht benannt werden konnten.

Die Einsamkeit durchbrechen, den Raum öffnen

Dann kann man gar nicht nur Opfer sein ...

Alberti: Ja, in diesem Sinne kann man und darf man gar nicht Opfer sein. Zudem gerieten Menschen politisch in Gefahr, wenn sie das benannten, das durfte nicht sein. Wenn ein Mensch heute einen Schicksalsschlag erleidet, dann darf er hadern, weinen und klagen, dann darf er Trost suchen und bekommen. Dies ist in einem gewollten Krieg, einem Angriffskrieg, nicht möglich, anders als in den Ländern, die angegriffen wurden.

Eine letzte Frage ist natürlich der Ausblick: Wie können wir als Erben dieser Kriegstraumata etwas davon abtragen, damit dieser Krieg in den Seelen und in den Familien irgendwann befriedet werden kann?

Alberti: Es ist erst einmal wichtig, überhaupt einen seelisch-geistigen Raum dafür zu öffnen, um die Erfahrungen der Familien, der einzelnen Menschen, benennen zu können. In einen Dialog zu treten mit der Generation der jetzt alten Menschen, der ehemaligen Kriegskinder und deren Nachkommen, die vieles wissen und fühlen aus ihrer Familienbiografie. Ich habe es oft erlebt in Gesprächen mit diesen in den 50er-, 60er-Jahren Geborenen: Es gibt sehr viel Angst vor der Familiengeschichte, sowohl vor den Täteranteilen, aber auch vor der Not und dem Schrecken.

Vor kurzem schrieb mir ein 1958 geborener Mann. Er hatte nach dem Lesen meines Buches das Gefühl, dass innere Einsamkeit ein großes Thema sei in dieser seiner Generation und das Wissen darum helfe ihm jetzt: „Dadurch, dass ich weiß, die anderen sind genauso einsam wie ich, bin ich nicht mehr so einsam.“ Das war ein sehr schöner Satz, er hat mich sehr berührt. Das ist, glaube ich, ein Weg, den seelischen Raum wieder zu öffnen: In wirklichen Austausch mit anderen zu gehen, die eigenen Wahrheiten auszusprechen. Wieder fühlen zu dürfen, zu trauern und weinen zu können über das eigene familiäre und das gemeinsame seelische Erbe unserer Generation, über unsere seelischen Trümmer.

Zum Weiterlesen:
Bettina Alberti, Seelische Trümmer. Geboren in den 50er- und 60er-Jahren: Die Nachkriegsgeneration im Schatten des Kriegstraumas, Kösel-Verlag, München 2010,
ISBN 978-3-466-30866-8.


Bettina Alberti, geboren 1960, ist als Psychologische Psychotherapeutin tätig in eigener Praxis. Die Bedeutung von psychischer Traumatisierung für die seelische Entwicklung und die Bindungs- und Beziehungsfähigkeit ist seit vielen Jahren ihr fachlicher Schwerpunkt.