"Dann weiß ich wenigstens, wer schuld ist", erklären Menschen manchmal ihre Beschuldigungen, nachdem Angehörige gestorben sind und sie nicht begreifen können wie und warum. In einer Situation, die aller Logik aber auch aller eigenen Erwartung widerspricht, ist es schon viel, "wenigstens etwas" zu wissen. Schuldzuweisungen können ein Rettungsanker sein, ein erster Versuch, die subjektiv zerbrochene Welt und Weltsicht neu zusammenzufügen.
Mittel gegen die Fassungslosigkeit
Zu wissen, wer oder was ursächlich für ein Unglück verantwortlich ist, gibt auch ein Mittel gegen das unerträgliche Ausgeliefertsein an ein Unglück in die Hand. Sobald ein Sündenbock gefunden ist, kann dieser bestraft werden, es ist dann möglich, wieder "etwas zu tun". Das gilt für Einzelne ebenso wie für eine ganze Gesellschaft.
In Bezug auf die Zukunft hat die Identifizierung von "schuldigen Personen" und "schuldhaftem Verhalten" beinahe magischen Charakter, denn sie scheint der Schlüssel zu Verhinderung weiteren Unglücks zu sein: Die Schuldigen können aus verantwortlichen Positionen entfernt werden, Kontrollinstanzen können schuldhaftes Verhalten in Zukunft effektiver verhindern, drastische Strafen sollen vor ähnlichem Fehlverhalten abschrecken. Andere Erklärungsmöglichkeiten für Unglücksfälle, die z. B. die Kategorie des "Zufalls" miteinbeziehen, verwehren Betroffenen all diese nachträglichen Handlungsmöglichkeiten. Vor Zufällen kann sich auch in Zukunft niemand schützen.
Der Teufelskreislauf ...
Der schmerzhaft erlebte Kontrollverlust angesichts einer Katastrophe, die das eigene Leben unwiederbringlich verändern wird, kann durch die Identifizierung von Schuldigen gelindert werden, denn Schuldvorwürfe geben den Betreffenden subjektive Handlungs- und Kontrollmöglichkeiten zurück. Neben diesen positiven Effekt haben Schuldzuweisungen jedoch auch negative Auswirkungen:
- Einzelne Schuldvorwürfe weiten sich oft aus zu Schuldinszenierungen, die die gesamte Sicht auf das Leben und das Selbst verändert, eine Schwarz-Weiß-Sicht auf andere Menschen und auch auf sich selbst verhindert Einstellungen wie Geduld, Akzeptanz, Respekt und auch Mitgefühl für alle Lebensbereiche.
- Der Wunsch nach Handlungsfähigkeit kann alle anderen Verarbeitungs- und Reaktionsmöglichkeiten auf eine Katastrophe überdecken. Innerhalb der Schuldinszenierung gibt es keinen Platz, die Gefühle von Ohnmacht, Einsamkeit, Trauer und Ratlosigkeit zu durchleben. Erinnerungen an das Verlorene oder an verstobenen Menschen konzentrieren sich ausschließlich auf die dramatischen Umstände, ein Trauerprozess, der auch Dankbarkeit und inneren Frieden enthält, ist so nicht möglich.
- Schuldvorwürfe gegen andere gehen oft Hand in Hand mit Schuldvorwürfen gegen sich selbst. Das zermürbende "Wieso habe ich nichts gemerkt, wieso habe ich nicht dieses oder jenes getan, um das zu verhindern?" führt zu einer dauerhaften Abwertung des eigenen Handelns und auch der eigenen Liebesfähigkeit in Vergangenheit und Gegenwart.
- Schuldvorwürfe können auch nur eine Illusion von Handlungsfähigkeit und Schutzmöglichkeit vor künftigen Katastrophen sein. Wenn es tatsächlich ein nicht zu beeinflussender "Zufall" oder "höhere Gewalt" waren, die ein Haus einstürzen, einen Zug entgleisen ließen, dann entfremden sich Freunde und Angehörige, die das annehmen können von denen, die weiter nach Schuldigen suchen. Die Einsamkeit und auch die Fassungslosigkeit der Betreffenden werden dadurch immer größer.
... und die Alternativen
Wer nach einer Katastrophe oder einem dramatischen Ereignis Schuldzuweisungen erhebt, braucht diese Beschuldigungen zunächst, um das Geschehen einordnen und bewältigen zu können. Diese Bedürfnisse müssen ernst genommen werden. Ein Teil dieser Beschuldigungen hat ausschließlich zum Ziel, dass Verantwortliche zu ihrer Verantwortung stehen und Missstände, die zu einer Katastrophe beigetragen haben, beseitigt werden. Diese Anliegen sollten unterstützt werden.
Ein anderer Teil der Beschuldigungen dient jedoch in erster Linie der Wiederherstellung eines Bewusstseins von Handlungsfähigkeit und Begreifenkönnen. Diese "instrumentellen" Beschuldigungen sind weder durch Argumente noch durch die Aufforderung zum Verzeihen erreichbar. Wenig hilfreich ist zudem eine zusätzliche Beschuldigung für die vorhandenen, scheinbar unsinnigen Vorwürfe.
Zuhören heilt
Notwendig ist ein Blick auf das zugrundeliegende Bedürfnis nach einer fassbaren Erklärung und einer angemessenen Reaktionsmöglichkeit auf das unfassbare Geschehen. Schuldzuweisungen sind für diese Menschen eine Krücke für den schwierigen Weg durch ein als zerbrochen erlebtes Leben sein, sie werden erst aufgegeben, wenn andere Stützen gefunden sind. Das können neue Lebensaufgaben sein, in denen das Bedürfnis nach dem Erleben der eigenen Handlungsfähigkeit erfüllt wird. Das sind auch Beziehungen, die Sicherheit und Trost vermitteln.
Für viele Menschen bedeutet das darüber hinaus den Zugang zu einer Spiritualität zu finden, in der sie sich trotz aller Unerklärlichkeiten der Welt geborgen fühlen. Auf dem oft langen Weg hin zu einem Zustand, der instrumentelle Schuldzuweisungen weniger oder sogar gar nicht mehr braucht, sind Gesprächspartner wichtig, die einfach zuhören und die Suche nach Halt und Zusammenhang aufgreifen können.
Die Sozialpsychologin Chris Paul arbeitet als Trauerbegleiterin in Bonn und ist unter anderem Autorin des Buchs "Schuld - Macht - Sinn" über Schuldfragen im Trauerprozess.