Hartz IV: "Das Interesse der Armen bleibt außen vor"
Kirche, Diakonie und Sozialverbände kritisieren das Scheitern der Hartz-IV-Verhandlungen. Der Streit werde auf dem Rücken von Millionen Empfängern ausgetragen, sagte der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Nikolaus Schneider.

Der Respekt vor den Betroffenen sowie vor dem höchsten Gericht gebiete es, endlich zu einem Ergebnis zu kommen, so Schneider weiter. "Schließlich hat das Bundesverfassungsgericht im Falle der Hartz-IV-Sätze Transparenz binnen Jahresfrist angemahnt." Regierung und Opposition war es auch in der Nacht zum Mittwoch in Berlin nicht gelungen, sich auf eine Neuberechnung der Regelsätze zu einigen, die das Bundesverfassungsgericht verlangt hatte. Am Freitag entschiedet der Bundesrat über den Vorschlag der Regierung (364 Euro), die allerdings in der Länderkammer keine Mehrheit hat.

Der Präsident des Diakonischen Werkes Johannes Stockmeier sagte, es bleibe jetzt völlig offen, wann das Bundesverfassungsgerichtsurteil zu Hartz-IV sachgerecht umgesetzt wird. "Millionen Menschen, darunter mehr als zwei Millionen Kinder und Jugendliche, müssen nun unter diesem parteipolitischen Machtkampf leiden", kritisierte Stockmeier. Die Diakonie mahnt, umgehend dem sozialpolitischen Gestaltungsauftrag des Verfassungsgerichtes gerecht zu werden, die Verhandlungen wieder aufzunehmen und zu einem Ergebnis zu bringen.

Diakonie ruft zu mehr Zusammenarbeit auf

Beim Bildungspaket habe sich gezeigt, dass sinnvolle Lösungen möglich seien, wenn alle politisch Beteiligten konstruktiv zusammen arbeiteten. "Länder, Opposition und Regierung haben die Verpflichtung, unverzüglich einen Kompromiss zu finden und zu entscheiden, um den Menschen das Vertrauen in die Sozialpolitik und die Verwirklichung des verfassungsgemäßen Rechtes auf Existenzsicherung zurückzugeben", betont Stockmeier. Nach Auffassung des Diakonie-Präsidenten ist es unverantwortlich, aus dieser existentiellen Frage eine parteipolitische Hängepartie werden zu lassen.

Auch die Präsidentin des Sozialverbandes VdK, Ulrike Mascher, sprach am Mittwoch von einem "Armutszeugnis für die Politik." Für die Hartz-IV-Empfänger müsse der Eindruck entstehen, es gehe bei den Verhandlungen weniger um die Verbesserung ihrer Lebenssituation, sondern eher um Positionskämpfe der Parteien. Der Sozialverband Deutschland schlug vor, die vorgesehene monatliche Erhöhung von fünf Euro vorab auszuzahlen. Der Deutsche Kinderschutzbund warnte davor, die Kinder zu "Leidtragenden der Unfähigkeit der Regierung" zu machen.

Wohlfahrtsverband erklärt Regierung für verantwortlich

Die Gewerkschaft IG Metall wirft der Bundesregierung vor, sie mache sich zum Handlanger von Lohndumping und Armutslöhnen. "Wer Leiharbeiter und Niedriglöhner im Regen stehen lässt, schafft Kinderarmut und weitere Hartz-IV-Empfänger", erklärte IG-Metall-Chef Berthold Huber. Die Gewerkschaft hat für den 24. Februar bundesweit zu Protesten gegen Leiharbeit und prekäre Beschäftigung aufgerufen.

Der Paritätische Wohlfahrtsverband rät den Betroffenen, höhere Leistungen notfalls einzuklagen. Da sich die Bundesregierung weigere, ein verfassungskonformes Gesetz vorzulegen, seien jetzt die Gerichte gefordert, erklärte der Wohlfahrtsverband am Mittwoch in Berlin. Alle Betroffenen sollten Anträge auf einen höheren Regelsatz sowie Bildungsleistungen für ihre Kinder stellen und bei einer Ablehnung klagen.

Die Bundesregierung sei für das Scheitern der Gespräche verantwortlich, sagte Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Wohlfahrtsverbandes. Die Opposition hätte den Vorschlägen überhaupt nicht zustimmen können, da der Regelsatz von 364 Euro für Erwachsene nach Ansicht nahezu aller Experten nicht verfassungskonform sei. Das geplante Bildungspaket wäre nach Ansicht des Verbandes sofort umsetzbar, auch ohne eine Einigung zwischen Bund und Ländern. Dafür brauche es keine gesetzliche Änderung.

Politikwissenschaftler: Verhandlungen waren überfrachtet

Für den Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge hat die Bundesregierung das Hartz-IV-Urteil des Bundesverfassungsgerichts von vorne herein nicht ernstgenommen. Sie hätte sich auf eine transparente und nachvollziehbare Berechnung der Regelsätze konzentrieren sollen, sagte er am Mittwoch in einem epd-Gespräch. Stattdessen habe sie "alles Mögliche" in den Gesetzentwurf aufgenommen und damit die Verhandlungen überfrachtet. "Die SPD hat als Antwort auch noch einmal draufgesattelt", erklärte der Politologe der Universität zu Köln.

Die jeweiligen Positionen der Parteien seien zu einer Prestigefrage geworden. Nun werde vor den Landtagswahlen ein Machtkampf auf dem Rücken der Hartz-IV-Empfänger ausgetragen, sagte Butterwegge. Das Interesse der Armen bleibe außen vor. Die Forderung des Bundesverfassungsgerichts, die Regelsätze nachvollziehbar zu berechnen, sei "völlig unter die Räder gekommen". Daher hätte auch der neue Vorschlag von Bundessozialministerin Ursula von der Leyen (CDU) vor den Karlsruher Richtern keinen Bestand, sagte Butterwegge. 

epd/dpa