Hartz IV: Platzen die Gespräche am Dienstagabend?
Die Verhandlungen über die Hartz-Reform hängen am seidenen Faden. Kaum einer rechnete vor Gesprächsrunde am Dienstagabend noch mit einer Einigung. Der Ton zwischen Regierung und Opposition wird härter. Falls die Gespräche scheitern, kann jeder Hartz-IV-Empfänger seine Ansprüche einklagen.
08.02.2011
Von Günther Voss und Karl-Heinz Reith

Die selbstgebackenen Plätzchen von Ursula von der Leyen kurz vor Weihnachten sollten frühzeitig Stimmung für eine einvernehmliche Hartz-IV-Lösung machen. Einige Wochen und zahlreiche Verhandlungsrunden später steht fest: Die freundliche Geste der Bundesarbeitsministerin an die Unterhändler war wohl vergebens. Die Kompromiss-Suche war nicht vorangekommen. Die Gespräche standen am Dienstag vor dem vorläufigen Scheitern.

Selbst Kanzlerin Angela Merkel ist angesichts der festgefahrenen Fronten pessimistisch. Strittig ist fast alles. Die Situation erinnert an zwei Züge, die in voller Fahrt aufeinander zurasen - und niemand weiß, wie sie zu stoppen sind. Denn die Opposition zeigte sich bislang hartleibig, wollte am Abend zur entscheidenden Verhandlung nach dpa-Informationen aber neue Alternativvorschläge auf den Tisch legen. Ob Union und FDP darauf eingehen, blieb abzuwarten.

Merkel: "Es geht der SPD nicht um Menschen"

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hat der SPD vorgehalten, die Hartz-IV-Verhandlungen zur eigenen Profilierung zu missbrauchen. "Es geht der SPD nicht um die Menschen. Es geht ihr nur darum, zu zeigen: Wir können auch politisch etwas durchsetzen", sagte Merkel nach Teilnehmerangaben in der Unionsfraktionssitzung am Dienstag in Berlin. Bei den Hartz-IV-Regelsätzen sei es weiter von entscheidender Bedeutung, ob es sich für die Empfänger lohne, eine Arbeitsstelle anzunehmen. Unionsfraktionschef Volker Kauder warnte: "Wir können uns nicht vorführen lassen."

FDP-Chef Guido Westerwelle sieht kaum mehr Spielraum bei den Hartz-IV-Verhandlungen mit SPD und Grünen. "Wir waren bei den Gesprächen mit der Opposition sehr kompromissbereit, aber es muss auch rote Linien der Vernunft geben", sagte er vor der FDP-Bundestagsfraktion am Dienstag in Berlin.

Die SPD ist offensichtlich mit Blick auf die bevorstehenden Landtagswahlen entschlossen, im Vermittlungsverfahren keine Zugeständnisse zu machen, die das Verhältnis zu den Gewerkschaften beeinträchtigen könnten. Daher auch das Beharren auf gleichem Lohn für gleiche Arbeit von Leiharbeitern und Stammbeschäftigten nach einer kurzen Einarbeitungszeit.

Entgegenkommen beim Bildungspaket

Auch die Forderung nach einem allgemeinen Mindestlohn gehört in diese Rubrik: Damit wollen die Sozialdemokraten erreichen, dass weniger Menschen überhaupt zu Hartz-Empfängern werden. All dies kann auch als Mittel gesehen werden, der Gegenseite den Einfluss der SPD im Bundesrat zu demonstrieren. Dort hat Schwarz-Gelb keine eigene Mehrheit mehr. Deshalb auch muss über das Hartz-Paket überhaupt noch einmal verhandelt werden.

Die Regierungsseite verzweifelt fast an der Blockadehaltung von SPD und Grünen. "Wir haben uns schon weit auf die Opposition zubewegt. Wir wollen ein Ergebnis, aber nicht um jeden Preis", sagte von der Leyen wenige Stunden vor der neuen Sitzung der Hartz-IV-Unterhändler am Dienstag. Entgegengekommen ist die Koalition der Opposition beim Bildungspaket für die Kinder aus armen Familien: Der Kreis der Begünstigten wurde auf Oppositions-Wunsch erweitert, die Kommunen sollen für die Umsetzung der Bildungsleistungen zuständig sein, nicht die Arbeitsagenturen.

Zuletzt machte von der Leyen sogar den Kommunen das Angebot, sie bei den Sozialhilfeausgaben für arme Rentner um Milliarden-Beträge zu entlasten. Dasselbe Angebot hatte Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) schon im November im Rahmen der Gemeindefinanzreform gemacht. Die Opposition fühlte sich prompt verschaukelt, auch in Teilen der Union machte sich Unmut über von der Leyen breit.

Von der Leyen nannte SPD-Modell "willkürlich"

Dabei waren die alten Streitfragen noch ungeklärt. Zuletzt legten SPD und Grüne einen Regelsatz nach einer anderen Berechnungsmethode auf den Tisch: 370 statt 364 Euro. Doch die Koalition winkte gleich ab, von der Leyen nannte das Rechenmodell "willkürlich". Auch FDP-Chef Guido Westerwelle will von einem solchen Zuschlag nichts wissen.

Union und FDP denken dabei natürlich auch an die nächsten Wahlen, denn Umfragen zeigen, dass jeder Euro mehr für Langzeitarbeitslose von vielen Bürgern als ungerecht gegenüber Geringverdienern und Rentnern angesehen wird. "Wer arbeitet, muss mehr haben als jemand, der nicht arbeitet", lautet Westerwelles Credo.

Die Koalition, speziell die FDP, will sich angesichts der verfahrenen Situation auf keinen Fall unter Zeitdruck setzen lassen. Nur weil an diesem Freitag die Hartz-Reform im Bundesrat verabschiedet werden könnte, komme eine Einigung auf den letzten Drücker schon gar nicht infrage.

Wenn es zu keiner Einigung kommt, müssen die Unterhändler zunächst weiterverhandeln. Und zwar so lange, bis am Ende ein Kompromiss steht. Das kann nach den Erfahrungen der vergangenen Wochen dauern. Nicht auszuschließen ist, dass sich die Gespräche - auch aus wahltaktischen Gründen - noch bis in den April hinziehen.

Noch einmal von vorne beginnen?

Sollte sich herausstellen, dass die Differenzen unüberbrückbar sind, könnte der Vermittlungsausschusses von Bundesrat und Bundestag sogar seinen Auftrag zur Lösungssuche zurückgeben. In diesem Fall könnte das ganze Verfahren noch einmal von vorne beginnen, sofern der Bundestag den Vermittlungsausschuss erneut anruft.

Die Neuregelung bei Hartz auf Verlangen des Bundesverfassungsgerichts ist seit 1. Januar überfällig. Je länger die Verhandlungen dauern, desto länger müssen die etwa 4,7 Millionen erwachsene Hartz-IV-Empfänger auf den neu berechneten Regelsatz warten.

Lässt eine Einigung weiter auf sich warten, würde Richterrecht gelten. Jeder Hartz-IV-Empfänger könnte dann unter Berufung auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts seine Ansprüche individuell einklagen. Die Sozialverbände haben dazu schon aufgerufen. Die Bundesagentur für Arbeit hält dies für nicht angebracht, da die Regelsatzerhöhung in jedem Fall rückwirkend gezahlt werde.

dpa