evangelisch.de: Wie geht es den Menschen 25 Jahre nach der Katastrophe?
Ludwig Brügmann: Die Menschen haben sich daran gewöhnt - und zwar dadurch, dass sie verdrängen. Man redet eigentlich nicht mehr über Tschernobyl. In Minsk, auf dem Land und sogar im Süden, wo die Verstrahlung am größten ist, ist das kein Thema mehr.
Leiden die Menschen noch heute unter gesundheitlichen Folgen?
Oh ja! Die häufigsten Erkrankungen betreffen die Schilddrüse, allein bei Schilddrüsenkrebs rechnen wir mit 100 000 Krebsfällen. Außerdem gibt es Leukämie, Brustkarzinom, Immunschwäche, das so genannte Tschernobyl-Aids, Missbildungen, Fehlbildungen, und vor allen Dingen immer mehr genetische Schäden. Das ist etwas neues, was Wissenschaftler erst in den letzten Jahren richtig entdeckt haben. Die Niedrigstrahlung, die ja heute überall noch im Süden vorhanden ist, löst ein beschleunigtes Altern von Zellen und Erbgutveränderungen, also DNA-Mutationen aus - und eben dadurch auch Missbildungen. Auch bei den so genannten Liquidatoren, die vor 25 Jahren dort aufgeräumt haben, und die inzwischen Kinder bekommen haben. Die haben auch schon wieder Erbschäden.
Ihr Verein hat 55 Einfamilienhäuser gebaut, Sie haben bei Ihrem Besuch Anfang des Jahres in diesen Häusern übernachtet. Wie geht es den Menschen, die in Drushnaja und Stari-Lepel wohnen, in finanzieller und sozialer Hinsicht?
Weißrussland - besser "Belarus" genannt - ist ja kein Entwicklungsland wie viele Länder der so genannten Dritten Welt. Es ist auch kein Schwellenland in dem Sinne, sondern es ist schon ein Industrieland, aber auf sehr niedrigem Niveau. Offiziell gibt es gar keine Arbeitslosen - aber natürlich wird es ein paar Prozent geben, wir wissen es nicht genau. Die Menschen, die mit unserer Hilfe umgesiedelt sind, haben in der Regel alle Arbeit. Vor allen Dingen in den Kolchosen (die Landwirtschaft ist ja auch verstaatlicht) oder, weil die beiden Dörfer an Seen liegen, auch in den dortigen Sanatorien - als Putzfrau, als Sekretärin, als Krankenschwester, in allen möglichen Berufen. Es hungert auch keiner in dem Land.
Weißrussland wird als "die letzte Diktatur Europas" bezeichnet. Inwieweit betrifft Lukaschenkos Politik das Leben der Tschernobyl-Opfer?
[reference:nid=39361]
Bis vor wenigen Jahren bekamen Tschernobyl-Opfer eine besondere Zuwendung an finanziellen Mitteln. Da das Land aber auch nicht gerade reich ist - es hat ja zum Beispiel überhaupt keine Bodenschätze, kein Gas, kein Öl, keine Kohle - versucht die Administration, diese Gelder zunehmend einzusparen und erklärt jetzt einfach: Die Menschen sind nicht mehr krank, und sie leben nicht mehr im verstrahlten Gebiet. Es gibt ja vier Zonen, und in den leicht verstrahlten Zonen, wo die so genannte "Niedrigstrahlung" ist, erklärt man peu à peu immer mehr Dörfer und ganze Landstriche für nicht verstrahlt - was aber nicht stimmt!
Behindert die Regierung die Arbeit Ihres Vereins?
Nein, das kann man eigentlich nicht sagen. Sie fördern uns nicht gerade sehr, aber die Zusammenarbeit ist auf Kreisebene ganz gut. Manchmal haben wir auch Probleme, aber es geht insgesamt. Sie wollen ja auf der einen Seite Hilfe haben, sie wollen auch Geld vom Westen, und ich muss sagen, durch unseren einheimischen Geschäftsführer vor Ort klappt das insgesamt relativ gut.
Was plant "Heimstatt Tschernobyl" als nächstes?
Ja, wir wollen schon, wenn wir dürfen - und es sieht ganz danach aus - weiter Häuser bauen für Umsiedler aus dem verstrahlten Gebiet. Wir bauen ja immer mit den Menschen zusammen, sie müssen zwei Sommer lang mithelfen, sonst kriegen sie das Haus nicht überschrieben. Dann wollen wir noch ein zweites Ambulanzzentrum bauen. Wir haben auch schon Windkrafträder errichtet, wir installieren Solaranlagen und Holzpellet-Heizungen - das Spektrum unseres Vereins ist ganz vielfältig.
Sind zum Jahrestag der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl in den Gebieten, wo Sie helfen, besondere Aktionen geplant?
Das ist eine ganz interessante Frage, die habe ich gerade mit dem deutschen Boschafter Dr. Christof Weil besprochen. Es ist ganz erstaunlich: 70 Prozent des Fallouts von Tschernobyl sind in Belarus niedergegangen und 30 Prozent zusammen in den beiden Ländern Russland und Ukraine. Aber in Belarus sind kaum Gedenktage und Gedenkstunden und -feiern geplant, wie mir Doktor Weil sagte, während in Deutschland und Europa und in der übrigen Welt vielfältige Aktionen stattfinden werden.
Dr. Ludwig Brügmann engagiert sich im Vorstand des Vereins Heim-statt-Tschernobyl und reist regelmäßig nach Weißrussland, um sich dort über die Lage der Menschen zu informieren. (Foto: privat)