Gemeinsamkeiten entdecken: Juden und Muslime im Dialog
Ein Jahr lang traf sich monatlich in Berlin eine Gruppe junger Muslime und Juden zu gemeinsamen Diskussionen abwechselnd in der Moschee und in der Synagoge: zwölf Teilnehmer, fast alle sind Einwanderer oder Kinder von Einwanderern.
04.02.2011
Von Igal Avidan

Die Mitglieder der Moschee-Gemeinde Haus der Weisheit und des jüdischen Vereins Jung und Jüdisch besuchten die Moschee und die Synagoge und fanden in Diskussionen auch Gemeinsamkeiten. Initiiert hat das einjährige Programm der Berliner Bildungsträger Miphgasch (Hebräisch für "Begegnung"), finanziert wurde es von der Stiftung Erinnerung, Verantwortung, Zukunft mit dem Ziel, alle Unrechtsgeschichten zur Geltung kommen zu lassen, um eine gemeinsame kulturelle Identität anzustreben", wie Vorstand Günter Saathoff es formuliert.

Zu Beginn erzählten sich die Juden und Muslime ihre Familiengeschichten, die bei den meisten von ihnen von Migration und Diskriminierung geprägt sind. Sie lernten, wie vielfältig der Islam und das Judentum im Alltag erlebt werden, über jüdisches Leben in Deutschland und die Geschichte von Arabern in Berlin. Dabei machten sie eine überraschende Entdeckung, erzählt Franziska Ehricht von Miphgasch: "Der allererste Araber, der im 10. Jahrhundert an die Spree kam, hieß Ibrahim ibn Yakub al Israili und war jüdischer Herkunft."

"Die Heterogenität war ein schöne Erfahrung"

Auch in der Gegenwart fanden die jüdischen und muslimischen Berliner Gemeinsamkeiten. "Der Besuch in der Moschee begann mit einer Verspätung der Gastgeber, die diese als ‚Teil der arabischen Kultur‘ erklärten. Die jüdischen Teilnehmer reagierten gelassen und sagten, sie seien daran gewöhnt und bei ihnen spreche man von ‚jüdischer Zeit‘".

Der 53 Jahre alte Vorstand und Imam des Moscheevereins Abdallah Hajjir, der bei Ramallah geboren wurde und seit 1978 in Berlin lebt, empfing die jüdischen Teilnehmer beim Freitagsgebet. Auch die muslimischen Beter begrüßten die Gäste. Hajjir übersetzte für sie einige Passagen seiner Predigt über Toleranz im Islam, die er auf Arabisch hielt, ins Deutsche. Anschließend wurden die Gäste zum Essen und zu Diskussionen in einen Nebenraum eingeladen.

Hajjir, der seine beiden Töchter Asmaa und Nur zur Teilnahme an dieser Dialoggruppe ermuntert hatte, betonte, dass, "wenn man die Religion gut versteht und auch gut verwendet, dann ist sie kein Anlass, einander zu bekämpfen oder zu hassen. Denn auch innerhalb des Islams gibt es eine Vielfalt. Jeder ist für seine Überzeugung und nur vor Gott verantwortlich".

Genausowenig, wie es "die Moslems" gibt, kann man auch von "den Juden" sprechen, erfuhr bald auch die Studentin der Sozialwissenschaften, Asmaa Hajjir. "Die Heterogenität unter der jüdischen und muslimischen Bevölkerung, die wir bewusst wahrgenommen haben, war eine schöne Erfahrung". Zum Beispiel, dass Entwurzelung und der Neubeginn in Deutschland das Schicksal ihrer Familien prägten, aus Palästina oder der ehemaligen Sowjetunion. Einigkeit herrschte auch bei der Gesprächsrunde über die kontroversen Thesen des Volkswirtes Thilo Sarrazin. "Die jüdischen Teilnehmer zeigten Solidarität mit den muslimischen", berichtet Ehlert.

Rollenspiel: Nahostkonflikt mit getauschten Rollen

Das heikle Thema Nahostkonflikt wurde äußerst "europäisch" diskutiert, sagt der 21-Jahre alte jüdische Jurastudent Michael Hasin. "Das heißt sachlich und rational". Das Schlüsselereignis bei dieser Veranstaltung war für ihn, als die Gruppe den Nahostkonflikt mit getauschten Rollen simuliert hat. Die jüdischen Teilnehmer vertraten die palästinensische Seite und die muslimischen die jüdisch-israelische. "Das war eine unheimlich bereichernde Erfahrung", sagt Hasin, der als Kleinkind aus Estland kam. "Ich habe daraus gelernt, dass es, verschiedene Möglichkeiten gibt, eine Sache zu sehen. Und den eigenen Blickwinkel unbedingt auch auf den anderen zu erweitern".

Auch nach dem Rollenspiel verliefen die Fronten bei dieser Diskussion nicht mehr unbedingt entlang der religiösen Linien. Asmaa Hajjir fand es schön, dass sie mit einem Juden bei so einem heiklen Thema dieselbe Meinung teilte, "wenn auch nicht mit allen". Pragmatisch betrachtet es Mahmoud Bargouth (rechts im Bild). Seine Eltern flohen 1948 aus Haifa und sind in den Libanon ausgewandert, wo sie sich kennen lernten und heirateten.

Nach dem ersten Libanonkrieg kamen sie 1986 über die DDR nach West-Berlin und erhielten Asyl. Der 32-jährige Student der Sozialarbeit und zweifache Vater Bargouth betont: "Die Lage drüben ist eine andere Sache, aber wir sind ja hier. Und hier muss man anders leben, miteinander, auch um die Lage dort positiv zu gestalten. Der Dialog ist empfehlenswert".

Mahmoud Bargouth hatte schon früher im Zentrum für interreligiösen Dialog mit Juden zusammengearbeitet und trat mit Juden und Christen in Schulen auf. Aber mit dieser Gruppe konnte er zum ersten Mal eine Synagoge besuchen. "Es ist schade, dass diese Sicherheitsvorkehrungen am Eingang notwendig sind. Ich habe aber meine Tochter mitgenommen und wir beide waren begeistert und wurden von den Betern gut angenommen".

Auch für Asmaa Hajjir war es der erste solche Besuch. "Ich habe vom Gottesdienst wenig verstanden, weil er nicht auf Deutsch gehalten wurde. Aber es war trotzdem sehr interessant und sie waren sehr gastfreundlich". Am Eingang übrigens hielt man die beiden Geschwister für national-religiöse Jüdinnen, weil diese ihr Kopftuch genauso binden. Aber durch seine Bekanntschaft mit den gläubigen Musliminnen Asmaa und Nur wurde auch Michael Hasin bewusst, dass eine kopftuchtragende Muslimin nicht unbedingt fundamentalistisch oder extremistisch sein muss.

Falsche Interpretationen behindern interreligiösen Dialog

Julia Giwerzew hingegen hatte bereits viel Erfahrung mit Muslimen in ihrer Heimat Tadschikistan. Im Bürgerkrieg erlebte die 44-Jährige, dass Nachbarn über Nacht Feinde werden können. Auch in Deutschland, wo ihre Familie seit 1991 nach einem kurzen Zwischenstopp in Israel lebt, hatte sie nicht nur gute Erfahrungen mit Muslimen gemacht. Ein Araber, dessen Familie sie als Sozialarbeiterin besuchen wollte, verbot ihr den Zutritt in die Wohnung, weil sie jüdisch ist.

Wenige Tage nach dem Zwischenfall auf dem türkischen Schiff vor Gaza im Mai 2010 wurde die Religionswissenschaftlerin beim Verlassen der Synagoge von muslimischen Jugendlichen, die sie und ihre Begleitung verfolgten, eine halbe Stunde lang beschimpft. "Ich konnte danach vor Wut und Angst nicht schlafen".

Dennoch schloss sich die zweifache Mutter der jüdisch-muslimischen Gruppe an, um gemeinsam Vorurteile abzubauen und sich für ein friedliches Zusammenleben von Juden und Muslimen hier einzusetzen. Giwerzew ist überzeugt, dass nicht die Religionen den interreligiösen Dialog im Wege stehen, sondern die Menschen, die sie falsch interpretieren. "Es ist letztendlich egal für jeden von uns, was Mohammad irgendwann mal gesagt hat oder was die Thora meint. Das hat für uns als Menschen, die miteinander kommunizieren, keine Bedeutung. Wir müssen alle akzeptieren, dass wir einander keinen Schaden zufügen dürfen".

Weil sie sich um die Sicherheit ihrer Söhne Sorgen macht, die mit nicht so aufgeklärten jungen Arabern zurechtkommen müssen, will Giwerzew in Schulen von ihren Erfahrungen berichten und zu Toleranz zwischen Juden und Moslems beitragen. Ihren Wunsch teilen mehrere Projektteilnehmer.


Igal Avidan ist freier Journalist in Berlin.