Muslimbrüder, Großscheich und ein freundlicher Ketzer
Wer kommt nach Mubarak? Viele Israelis und manche Kopten fürchten: die Muslimbrüder. Doch wie gefährlich sind die ägyptischen Islamisten eigentlich? Geben sie unter den Demonstranten überhaupt den Ton an? Vier von fünf Ägyptern sind Muslime. Aber maximal 25 bis 30 Prozent der Bevölkerung – schätzen westliche Beobachter – sind Anhänger der Muslimbruderschaft. Umso spannender ist die Frage, mit welchen Gedanken die übrige muslimische Bevölkerung am Nil sympathisiert.
02.02.2011
Von Martin Rothe

Während die Menschen auf den Straßen von Kairo, Alexandria und in den anderen ägyptischen Städten vom Rausch der Demokratie und Freiheit mitgerissen werden, gibt sich die "Wiege der Demokratie" erstaunlich reserviert. In Europa und Amerika herrscht banges Rätselraten: Wer kommt nach Mubarak? Wird es wie 1979 im Iran, wo auf den gemeinsamen Sturz des Despoten die Machtergreifung durch den islamistischen Teil der Opposition folgte? In diesem Fall also: durch die Muslimbrüder?

In Sorge ist besonders der direkte Nachbar Israel, der zu den "Pharaonen" Anwar as-Sadat und Hosni Mubarak seit 1979 immer einen guten Draht hatte. Die israelfeindliche Hamas im Gaza-Streifen ist schließlich aus der Muslimbruderschaft hervorgegangen. In Sorge sind zugleich manche der koptischen Christen Ägyptens, deren Glaubensgeschwister erst vor wenigen Wochen zum Opfer blutiger Anschläge wurden.

Von der Facebook-Generation überrollt

In der Tat: Auf den Fernsehbildern, die uns aus Kairo und Alexandria erreichen, sind unter den Demonstranten auch Muslimbrüder zu sehen – und ihre "Schwestern", von denen man oft nur die Augen sieht. Der ARD-Korrespondent Jörg Armbruster fragt einen "Brüder", ob er eine islamische Republik nach Mubarak wolle. "Nur wenn das Volk es will, sonst nicht", sagt der bärtige Mann mittleren Alters. Man respektiere bestehende völkerrechtliche Verträge, sagt ein Sprecher der Organisation.

Die Muslimbrüder galten vor dem aktuellen Volksaufstand als die wichtigste oppositionelle Kraft im Land. Jetzt scheinen sie eher Mitläufer zu sein. Die nicht-islamistische Zivilgesellschaft hat selbst das Heft in die Hand genommen. Und die jungen, freiheitshungrigen Internet-Nutzer – Männer wie Frauen, Muslime wie Christen – haben dem Land ein atemberaubendes Tempo vorgegeben: "In letzter Minute, nämlich am Freitag erst, sind die Muslimbrüder auf den Revolutionszug aufgesprungen. Immer noch sitzen sie im letzten Waggon, und dort mögen sie bleiben", sagt Stefan Weidner, Islamwissenschaftler und Übersetzer mit guten Kontakten in die arabische Welt.

Viele Kenner Ägyptens weisen darauf hin, dass die Muslimbrüder friedlich und kompromissbereit am demokratischen Prozess mitwirken wollen. Und dass es auch in dieser Organisation sowohl strenge als auch inzwischen sehr gemäßigte Flügel gibt.

Der Gewalt abgeschworen: Die Muslimbrüder

Zwar hatte sich ein Teil der Gruppierung in den 1960er Jahren radikalisiert. So meinte der damalige ideologische Vordenker Sayyid Qutb, die Scharia müsse säkulare Werte aus dem öffentlichen Leben verdrängen – notfalls mit Gewalt. Und in den geistigen Wegspuren dieses Mannes ermordete dann eine Gruppe von Fanatikern 1981 Ägyptens Präsidenten Anwar as-Sadat, nachdem dieser mit Israel Frieden geschlossen hatte.

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Die Hauptströmung der Muslimbruderschaft hat jedoch bereits 1972 der Gewalt abgeschworen und seither mittels eines ausgedehnten karitativen Engagements um Anhänger geworben – so auch am Rande der jetzigen Proteste bei der Versorgung Verwundeter. Von Al-Qaida wurden die Muslimbrüder verurteilt, weil sie an Wahlen und damit am demokratischen Prozess teilnahmen.

Michael Lüders, Politikberater und Ägyptenkenner, sieht die Muslimbruderschaft angesichts der aktuellen Ereignisse am Scheideweg: In einem demokratisierten Staat müsse sich die Organisation entscheiden, ob sie den Weg der Radikalisierung gehen wolle wie die saudi-arabischen Wahhabiten, oder ob sie sich zu einer gemäßigt-islamkonservativen Partei entwickeln wolle wie die erfolgreiche türkische Regierungspartei AKP.

Geistig ausgezehrt: Die Al-Azhar-Universität

Auf dem Abstellgleis scheint sich indes der Mubarak-nahe Staatsislam Ägyptens zu befinden. Er wird vor allem assoziiert mit der altehrwürdigen Al-Azhar-Universität in Kairo. Die 975 gegründete Hochschule mit etwa 375.000 Studierenden gilt als die oberste theologische und rechtliche Autorität der Sunniten und repräsentiert den konservativen Mainstream-Islam. Ihr vor kurzem verstorbener Großscheich Tantawi war – wie sein Nachfolger – von Präsident Mubarak eingesetzt worden und hat sich wiederholt gegen den Terrorismus ausgesprochen.

Grenzgänger zwischen den Kulturen wie der deutsch-iranische Orientalist und Schriftsteller Navid Kermani bescheinigen diesem Bollwerk des orthodoxen Islams jedoch intellektuelle Auszehrung: "Das Niveau, auf dem innerhalb der zentralen religiösen Autorität der sunnitischen Muslime über Religion nachgedacht wird, dürfte von den meisten evangelischen Gemeindepfarrern übertroffen werden" schreibt Kermani in seinem Buch Wer ist Wir? Deutschland und seine Muslime (2009).

Als Ketzer verfolgt und zwangsgeschieden: Reformdenker Abu Zaid

Die Reformer des Islam sind heute anderswo anzutreffen. An der staatlichen Universität Kairo lehrte bis Mitte der 1990er Jahre ein Mann, dessen Ideen für das religiöse und staatliche Establishment so ungeheuerlich klangen, dass er 1995 zum Glaubensabtrünnigen erklärt und von seiner Frau zwangsgeschieden wurde – woraufhin das Paar in die Niederlande floh. Die Rede ist von Nasr Hamid Abu Zaid (1943-2010).

Der Spezialist für arabische Literaturwissenschaft mit Schwerpunkt Koranauslegung hatte dem islamischen Denken den Anschluss an die Moderne eröffnet, indem er Erkenntnisse der Hermeneutik auf das heilige Buch des Islam übertrug. Gefährlich wurde es für den so mutigen wie frommen Muslim Abu Zaid, als er den religiösen Diskurs sowohl des ägyptischen Staatsislams als auch der islamischen Fundamentalisten kritisierte.

Mit seinem anregenden Lebenswerk entzog der freundliche, rundliche Mann aus dem Nildelta zugleich auch jenen im Westen, die den Koran quasi für ein "Buch des Bösen" halten, ein für alle Mal die Argumentationsgrundlage.

Kein "Gottesstaat" am Nil

Ob und wie stark die Frischluft der Gedanken Abu Zaids zu dem Sturmwind beitrug, der jetzt durch die arabische Welt weht, könnte bald erkennbar werden: Dann nämlich, wenn die Revolutionäre Gelegenheit bekommen, ihre Ideen in Staat und Wissenschaft umzusetzen.

Ein "Gottesstaat" am Nil ist dagegen aus Sicht diverser Islamwissenschaftler nicht zu befürchten. "Die Angst vor einer islamistischen Regierung in Ägypten teile ich in keiner Weise", sagt beispielsweise Sonja Hegasy vom Zentrum Moderner Orient. "Die Ägypter selbst haben in den 90er-Jahren so stark unter dem islamistischen Terror gelitten, dass extrem-radikale Strömungen nicht mehr unterstützt würden." Die Wissenschaftlerin hält es für durchaus möglich, dass auch eine moderat-islamistische Regierung mit Israel verhandelt oder zumindest den bestehenden "Kalten Frieden" nicht aufkündigt. Ähnliches habe man in der Türkei gesehen.

Und der Wissenschaftler und Autor Stefan Weidner bilanziert: "Die tunesische Lektion, so grausam wie unvergesslich, dass eine Selbstverbrennung mehr bewirkt als Selbstmordanschläge, lässt sich aus dem arabischen kollektiven Gedächtnis nicht mehr streichen."


Martin Rothe ist freier Journalist mit den Schwerpunktthemen Islam, Integration, Kirche und Zivilcourage.