Ägypten und Tunesien markieren die Stunde Null für Arabien
Die Uhr tickt: Die Flucht von Präsident Ben-Ali aus Tunis, erst Mitte Januar geschehen und doch schon so weit entfernt, hat etwas in Gang gesetzt, was noch Monate und Jahre andauern wird: ein neues politisches Erwachen in der arabischen Welt. Man hat zurecht vom "Dominoeffekt" gesprochen, der dadurch ausgelöst wurde. Der erste Dominostein, der fällt, ist Ägypten; weitere Dominosteine wackeln: Sudan, Jemen, Jordanien, Mauretanien, Marokko und Algerien. Aber wie diese neue Entwicklung die gesamte arabische Welt erfasst, so sind doch die Gegebenheiten in den diversen Staaten unterschiedlich und werden auch zu unterschiedlichen Ergebnissen führen können.
02.02.2011
Von Marco Schöller

Tunesien ist nicht Ägypten. Zunächst einmal, weil die Revolution in Tunesien bereits ein vorerst erfolgreiches Ende gefunden hat; die Situation in Ägypten ist noch offen und wird vielleicht keine relativ konfliktfreie Lösung finden wie in Tunis. Die Gesellschaften sind verschieden, wie auch die wirtschaftliche Lage: Ägypten ist um vieles ärmer als Tunesien. Und nicht zu vergessen, dass die Tunesier ein insgesamt sehr "europäisches" Volk sind: Dank der allgemeinen Französischkenntnisse, französischem (bzw. italienischem) Fernsehen und westlicher Presse haben sie in den meisten Fällen Wissen aus erster Hand über die Verhältnisse im Westen, das ihnen helfen kann, eine Demokratie aufzubauen.

Zudem besitzt Tunesien durch die große Exilgemeinde im nahen Frankreich ein "Zweit-Tunesien", das Einfluss auf die kommenden Verhältnisse haben wird. Nicht so in Ägypten: Viele Ägypter sehnen sich nach demokratischen Verhältnissen, kennen aber demokratische Verhältnisse und Mechanismen nicht einmal aus westlichen Medien; die Ägypter in Übersee sind über die Welt verstreut, und die meisten leben in den USA.

Politische Soft-Rhetorik der westlichen Staaten

Verschieden ist auch die geopolitische Lage der beiden Staaten: Ägypten liegt, anders als Tunesien, an einer neuralgischen Stelle: am Suezkanal und neben Israel. "Vitale strategische Interessen des Westens", wie man zu sagen pflegt, sind hier betroffen: wirtschaftliche (Verkehr durch den Suezkanal), militärisch-strategische (Ägypten als Operationsbasis im Umfeld von Libyen, Sudan, Gaza, Syrien) und politische (Unterstützung Israels). Der Westen kann hier den Entwicklungen, im Sinn der bislang verfolgten Realpolitik, nicht mit demselben Gleichmut zusehen wie in Tunesien.

Tatsächlich ist die Reaktion der westlichen Staaten entsprechend: politische Soft-Rhetorik verbunden mit vagen Aufforderungen zu Reformen, aber keine eindeutige Positionierung für oder gegen das Regime – was von den Demonstranten in Ägypten (und den Beobachtern in anderen arabischen Staaten) als eine klare Positionierung zugunsten des Regimes wahrgenommen wird. Ganz offensichtlich haben im Moment die westlichen Staaten, die USA in erster Linie, das "Shah-Problem": Die Werte, zu deren Verteidigung man in der Welt antritt, machen eine Unterstützung der Mubarak-Diktatur eigentlich unmöglich, aber aus strategischen Gründen will man an ihr festhalten. Doch wie auch immer man sich positioniert, es kann am Ende falsch sein.

Ein klägliches Resultat der westlichen Politik

Aus diesem Grund wird von westlichen Politikern sowie in Israel die Angst geschürt, aus dem Aufstand in Ägypten könne am Ende ein islamischer Gottesstaat nach dem Muster des Irans hervorgehen. Das ist zwar, aus zahlreichen Gründen, ganz unwahrscheinlich, soll aber wohl die Unerlässlichkeit des Mubarak-Regimes in Ägypten suggerieren. Der Iran hat aufgrund seiner schiitischen Tradition und des straff organisierten Klerus so spezifische Bedingungen, dass dort ein islamisches Regime möglich wurde; in Ägypten fehlen diese Voraussetzungen, und die Muslimbrüder würden bei freien Wahlen nicht annähernd eine Mehrheit erringen. Und es sollte doch zu denken geben, dass auch der ansonsten nicht für vernünftige Aussagen bekannte Präsident Irans in dasselbe Horn stößt: Er sieht in Ägypten schon die erste islamische Republik in einem "befreiten" Orient.

Aber die Geschehnisse in Tunesien und Ägypten machen dem Westen noch anders zu schaffen: Das Volk in arabischen Ländern hat jetzt selbst in die Hand genommen hat, was sich bisher mit dem milliardenteuren Einsatz westlicher Armeen anderswo (Irak, Afghanistan) nicht bewerkstelligen ließ. Das ist für den Westen nicht nur ein klägliches Resultat der eigenen Politik, sondern birgt auch Risiken, nicht zuletzt für die deutschen Truppen in Afghanistan. Zum einen stellt die halbherzige Unterstützung der arabischen Demonstranten durch westliche Regierungen das eigene, bisher zur Rechtfertigung militärischer Abenteuer benutzte Credo, die Demokratie verbreiten zu wollen, in ein schlechtes Licht. Zum anderen könnten die jüngsten Ereignisse den Widerstandsgruppen in Irak und Afghanistan wieder mehr Motivation geben, gegen die westlichen Soldaten vorzugehen.

Das Mubarak-Regime ist nicht zu retten

Trotz alledem fällt es dem Westen schwer, hergebrachte Denkmuster und ideologische Überzeugungen der neuen, einer tatsächlich revolutionär neuen Situation anzupassen. Die Kooperation mit Autokraten, die sich über Jahrzehnte eingespielt hat, machte die Außenpolitik bisher einfach. Man konnte, um heimische Kritiker zu besänftigen, hier und da "die Menschenrechtsproblematik ansprechen", um dann zur Tagesordnung überzugehen. Hinzu kommt, dass Autokraten im Regelfall vorhersagbar sind, zumal sie meist nur dank westlicher Unterstützung überleben können, was sie wiederum dazu zwingt, westlichen politischen Diktaten folge zu leisten. Ägypten ist dafür ein Paradebeispiel.

So wird es aber nicht mehr weitergehen können. Der Westen muss schleunigst darüber nachdenken, was bisher unnötig war, wie er in Zukunft mit weniger "verlässlichen", dafür aber demokratisch legitimierten Regierungen in den arabischen Staaten umgehen wird – hoffnungsvoll vorausgesetzt, dass es diese geben wird. Aber das ist nicht zu viel verlangt: Im Fall Israels, wo fast jeder Regierungswechsel nach Wahlen die internationale Gemeinschaft auf eine Geduldsprobe stellt, hat man das ja auch gelernt. Und man wird im Westen überlegen müssen, wie man den arabischen Ländern helfen kann, die sich ihrer Diktatoren entledigt haben.

Tunesische Revolution: Stunde Null der arabischen Welt

Eine Woche nach Ausbruch des ägyptischen Aufstands am 25. Januar ist abzusehen, dass das Mubarak-Regime in seiner bisherigen Form am Ende ist; es mag noch Tage, vielleicht noch Wochen dauern, aber es ist nicht zu retten. Was danach kommt, ist nicht vorherzusagen, wenn wir auch das Beste hoffen müssen. Die außerordentliche strategische Bedeutung Ägyptens für den Westen und für Israel lässt befürchten, dass man dahingehend Einfluss nehmen wird, ein weiteres "stabiles" Regime einzusetzen, möglicherweise auch eine Militärregierung. Es liegt am Widerstand des ägyptischen Volkes, ob das umsetzbar sein wird.

Andererseits mag gerade die unnachgiebige Haltung Mubaraks das Fass zum Überlaufen bringen. Seine Haltung wird am besten durch einen Witz illustriert, der seit Tagen kursiert: Minister: "Herr Präsident, das Volk ist draußen auf der Straße, um sich von Ihnen zu verabschieden." Mubarak: "Warum? Wohin will es denn gehen?"

Nach seiner dritten Rede, die am Dienstagabend im ägyptischen Fernsehen ausgestrahlt wurde und worin Mubarak wiederum nur Minimalzugeständnisse gemacht hat – darunter die Aussage, er werde sich im September nicht noch einmal zur Wahl stellen –, formiert sich unter den Demonstranten zum ersten Mal der Ruf nach einer gewaltsamen Absetzung Mubaraks. Vor wenigen Wochen hätte die Ankündigung Mubaraks noch große Begeisterung ausgelöst, jetzt wird sie nicht genug sein, um den Volkszorn zu zähmen. Und so mag es in Kürze doch mehr Ähnlichkeiten zwischen den Ereignissen in Tunesien und Ägypten geben: Auch Ben-Ali hielt Fernsehreden, wechselte Minister aus und versprach Reformen, bevor er aus dem Land floh.

Es bleibt die große Hoffnung. Was in den letzten Wochen in Tunesien und Ägypten geschehen ist – und was dort und in anderen arabischen Staaten noch geschehen wird – rechtfertigt jeden Superlativ. Die Revolution in Tunesien war eine Stunde Null für die arabische Welt. Und die Uhr tickt.


 

Dr. Marco Schöller ist Professor für Islamische Geschichte an der Universität Münster.