Palliativ-Arzt: "Ich hab' ein Problem mit dem Morphium"
Wenn Patienten sterben wollen, sind Ärzte machtlos. Sie dürfen nicht "nachhelfen". Der Fall Mechthild Bach macht den Konflikt deutlich: Die Ärztin war wegen des Todes von 13 Patienten angeklagt. Sie nahm sich das Leben und wird heute beerdigt. Auf der Palliativstation des DRK-Krankenhauses in Alzey gilt: Nur so viel Morphium wie unbedingt nötig.
01.02.2011
Von Anne Kampf

Auf den unteren Rändern der Brille von Doktor Christoph Kern sind eingetrocknete Reste von Tränen zu erkennen. Er musste weinen an diesem Nachmittag: Eine 34-jährige Patientin ist an Krebs gestorben. Jetzt sitzen und stehen ein gutes Dutzend Angehörige in der großen Küche der Palliativstation und klagen. Laut. Die Patientin war türkischer Abstammung. Verwandte, Nachbarn, Freunde sind gekommen, um sie laut und tränenreich zu betrauern.

Doktor Kern (Foto: evangelisch.de/Anne Kampf) hat sich etwas zurückgezogen. Er ist feinfühliger Mann, der mit Blicken manchmal mehr sagen kann als mit Worten. Jetzt beobachtet er mit verschränkten Armen die Szene und schüttelt sich dann: "Furchtbar." Der Tod der jungen Frau, die genauso alt war wie sein ältester Sohn, lässt auch den erfahrenen Oberarzt nicht unberührt. Schwester Anja Schäfer denkt an die anderen Patienten in den vier weiteren Zimmern der Palliativstation: "Hier ist heute so viel Schmerz. Nebenan liegt eine sterbende Frau, die regt das total auf."

Die türkische Familie wird etwas ruhiger. Schwester Anja und der Oberarzt behalten die Trauernden mit einem Auge im Blick, atmen selbst einmal tief durch und nehmen sich in einem Nebenraum Zeit für das Interview mit evangelisch.de. Über ihre Arbeit zu reden, das sind sie gewohnt, denn täglich wird der Zustand der Patienten im Team besprochen, und einmal im Monat haben die acht Schwestern und der Oberarzt eine Supervision.

"Wie am Strand liegen und langsam hinübergleiten"

Ihr Job verlangt mehr als medizinische Kenntnisse. Sie müssen zuhören, mitfühlen, beraten, den Tod und die Trauer verkraften. Immer wieder. Den Patienten versuchen sie, mit Traumreisen oder Fußmassagen etwas Schönes zu geben. Seit gut einem halben Jahr gibt es die Palliativstation im DRK-Krankenhaus Alzey, hierher kommen Menschen, deren Leben nicht mehr gerettet werden kann. Oder die selbst eine Chemo- oder Strahlentherapie ablehnen und lieber sterben wollen.

"Sterben kann durchaus etwas Friedliches sein", ist Doktor Christoph Kern überzeugt. "Wie am Strand liegen und langsam hinübergleiten." Manchmal allerdings kommt der Tod wie ein "dunkles Tier" bedrohlich durchs Fenster herein, so beschreiben Patienten ihre unheimliche Erwartung. Der Mediziner Christoph Kern erkennt körperlichen Merkmalen, wenn das Leben eines Menschen zu Ende geht: "Die Atmung wird flach und jagend, das Gesicht fahl, die Haut bekommt Flecken".

Medikation wird genau aufgeschrieben

Er ist ein Arzt, der nicht heilt. Jedenfalls nicht auf dieser Station. Doktor Kern will nur eins: Dass seine Patienten keine Schmerzen haben. Sie werden regelmäßig aufgefordert, auf einer Skala von eins bis zehn zu beschreiben, wie stark es weh tut. Manche sagen bei ihrer Einlieferung: "Elf". Dann verabreicht Doktor Kern Morphium - erst eine geringe Dosis, wenn sie nicht reicht, etwas mehr. So viel wie nötig, so wenig wie möglich. Die Patienten sollen wach und ansprechbar bleiben und möglichst noch etwas Lebensmut behalten.

Obwohl das Mittel zum Ziel führt, ist Christoph Kern kritisch: "Ich hab ein Problem mit dem Morphium", gibt er zu, "denn jede Droge ist bewusstseinsverändernd." Über seine unguten Gefühle hat er mit dem evangelischen Pfarrer gesprochen, der die Palliativstation betreut. Der habe ihm versichert: "Doktor, was du da machst, das ist in Gottes Augen in Ordnung." Christoph Kern war getröstet. Ein Gefühl der Schuld hat er nicht, "eher im Gegenteil: Wir helfen den Patienten, sind bei ihnen, begleiten sie. Sie können in Würde und Frieden sterben."

Doch was wäre, wenn Doktor Kern oder Schwester Anja einmal aus Versehen oder aus Mitleid etwas mehr Morphium verabreichen würden als unbedingt nötig? Kann es passieren, dass eine zu hohe Dosis Schmerzmittel zum Tode führen würde? Christoph Kern meint: Nein. "Ich achte sehr streng darauf, dass wir nicht überdosieren." Jeden Tag wird die Medikamentengabe für jeden Patienten genau dokumentiert, damit Arzt und Schwestern abgesichert sind. Auch Schwester Anja hat "Respekt" vor dem Morphium, sie sagt: "Ich bin mir meiner Macht bewusst."

BGH-Urteil stufte Patientenwillen hoch ein

Natürlich gibt es Patienten, die ihre Situation so unerträglich finden, dass sie schnell sterben wollen: "Herr Doktor, bitte geben Sie mir 'ne Spritze", bitten sie ihn. Das kann er verstehen. Aber eine solche Spritze gibt es bei Christoph Kern nicht - egal, wie schlimm es dem Sterbenden geht. Erstens weil er niemals einen Menschen töten würde, zweitens weil Sterbehilfe verboten ist. Der Arzt würde sich strafbar machen. Er kann den Schmerz lindern, die Übelkeit bekämpfen, gut zureden - doch über den Tod entscheidet er nicht.

Das einzige, was Ärzte laut Urteil des Bundesgerichtshofes vom Juni 2010 dürfen: Eine lebenserhaltende Behandlung abbrechen, zum Beispiel eine Magensonde oder eine Beatmung. Voraussetzung ist, dass der Patient, als er noch bei Bewusstsein war, einen Behandlungsabbruch mündlich oder schriftlich so verfügt hat. Und selbst dann führt Doktor Kern intensive Gespräche mit den Angehörigen und mit seinem Team, bevor er tatsächlich Schläuche entfernt.

Der Oberarzt akzeptiert es auch, wenn Patienten nicht mehr geheilt werden wollen. Eine krebskranke Frau lehnte es in Alzey zum Beispiel ab, sich einer Chemotherapie oder Bestrahlung zu unterziehen. Sie verbat sich sogar jegliche weiterte Diskussion darüber. "Du bist der Chef", hat Christoph Kern zu ihr gesagt und die Frau nach ihrem Willen sterben lassen.

Wo geht die Mama hin? In den Himmel!

Interessant war, dass Schwester Anja (Foto: evangelisch.de/Anne Kampf) sich in diesem Fall ausgerechnet um den Ehemann der jungen Frau kümmern musste. Er bekam im letzten Lebensstadium seiner Frau, als sie sich nicht mehr äußern konnte, Gewissensbisse: Tat er wirklich das Richtige, sie ihrer Krankheit zu überlassen? Anja Schäfer erinnert sich sehr genau an dieses Gespräch, denn das Paar war genauso alt wie sie und ihr Mann. Solche Gespräche belasten.

"Noch kann ich das ganz gut kompensieren", sagt Anja Schäfer, doch sie gibt zu: "Manches ist schwer auszuhalten. Man muss auf sich aufpassen." Alle Schwestern der Palliativstation durchlaufen nacheinander eine Weiterbildung, damit sie professionell mit den Erfahrungen von Sterben, Leid und Trauer umzugehen lernen. Oft nimmt Anja Schäfer nach Feierabend Geschichten mit nach Hause.

Geschichten wie die von dem vierjährigen Jungen, dessen Vater gestorben war. Er kletterte auf das Bett, streichelte den Toten und wollte, dass der Papa seinen Lutscher probierte. "Da hab ich mit der Mutter geweint", erzählt Anja Schäfer. Es wird viel geweint auf dieser Station, und in die Traurigkeit von Doktor Kern mischt sich manchmal auch Staunen: Zum Beispiel über die Elfjährige, der er mitteilen musste, dass ihre Mutter sterben würde. "Wo geht sie hin?", fragte er das Kind - "In den Himmel". "Und wo ist der Himmel?" Sie zeigte nach oben, zögerte kurz, wies dann mit der Hand auf ihre Brust - im Herzen.

Klare Worte: Arzt spricht von der "Sterbenskrankheit"

Die Gespräche mit den Angehörigen machen einen großen Teil der Arbeit auf der Palliativstation aus. Die Ehepartner, Kinder oder Eltern wünschen sich, dass jemand zum Reden da ist, und sie wollen klare Informationen über den Fortschritt der Erkrankung bekommen. Doktor Christoph Kern hat ein Wort erfunden, das nichts beschönigt: Am Ende spricht er von der "Sterbenskrankheit". Die letzte Reise hat begonnen.

Anja Schäfer muss an diesem Nachmittag noch einen schweren Gang machen. Ihr Kolleginnen haben die verstorbene Türkin von allen Schläuchen befreit und mit einem weißen Tuch bis über das Gesicht zugedeckt. Jetzt schiebt Anja Schäfer das Bett über den Flur zum Aufzug, die weinenden Verwandten folgen ihr. Doktor Kern steht daneben und schaut sie teilnahmsvoll an.

Als alle draußen sind, geht er in die Küche und kocht Kaffee. Schwester Anja Schäfer kommt nach einer Weile zurück, sie hat eigentlich schon lange Feierabend, ist hungrig und durstig. Doch bevor sie geht, ist noch eine Sache zu tun, ein Ritual: Sie zündet ein Licht an. Mit einer großen Kerze vor der Zimmertür erweist das Team der Palliativstation der gerade Verstorbenen die letzte Ehre.


Anne Kampf ist Redakteurin bei evangelisch.de und zuständig für die Ressorts Politik und Gesellschaft.