Den Gutshof Poll soll es wirklich gegeben haben. In jenen Zeiten, als die Vorfahren des Regisseurs in der "kanadisch" anmutenden Landschaft im Baltikum siedelten. Dort haben sich Eindringlinge Jahrhunderte lang eingenistet, bis Krieg und Revolution die Vorherrschaft der deutschbaltischen Barone beendeten. Die Filmhandlung allerdings ist erfunden. Sie beschwört eine Zeit herauf, in der auch die Schriftstellerin Oda Schäfer (1900-1988) aufgewachsen ist. Die Großtante von Regisseur Chris Kraus war in jenen unruhigen Zeiten tatsächlich auf Gut Poll zu Besuch.
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Estland im Sommer 1914. Ein weit ausholender Kameragleitflug verbindet Himmel und Erde, als die 14-jährige Oda von Siering (Paula Beer) mit dem Sarg ihrer Mutter im Gepäck in der Einöde aus dem Zug steigt. Das trauernde, ernste Mädchen mit Hütchen ist noch ein Kind, das erst durch den Schub der Ereignisse in jenem Sommer zur Frau heranwachsen wird.
Noch bewundert sie ihren Vater Ebbo (Edgar Selge), den vom Dienst suspendierten Professor, der sich über das Mitbringsel - ein Zwillingspaar in Spiritus - freut, dann einem toten Anarchisten die Hirnschale aufsägt, um nach dem Ursprung des Bösen zu suchen und kurz darauf einen verletzten Arbeiter mit Nadel und Faden wieder zunäht.
Gegen die Allgegenwart der Gewalt ankämpfen
Dunkles Mittelalter löst mit einem Schlag die sonnendurchflutete Küstenlandschaft ab, als der Film ins schattige Innere des Palladio-Schlösschens und des gruseligen Labors von Ebbo eintaucht. Eine Welt voller Gegensätze.
Die Harmonie zwischen Vater und Tochter wird langsam von der nahenden Erkenntnis über die Wahrheit der herrschenden Verhältnisse abgelöst.
Denn dann rücken Oda und die keusche Liebesgeschichte mit dem Anarchisten Schnaps (Tambet Tuisk) in den Mittelpunkt, den sie versteckt und heimlich verpflegt. Das ist der gute Kern, mit dem der Film gegen die Allgegenwart der Gewalt anzukämpfen versucht. Dass nur ein radikaler Umsturz etwas ändern wird und die Anarchisten als Vorboten einer neuen Zeit unterwegs sind, lässt der Film nur erahnen. Wichtiger ist die Spannung, die sich innerhalb des Familienclans, aber auch im Umgang mit den dort vorübergehend einquartierten russischen Kavalleristen aufbaut.
Baron Ebbo bleibt als Repräsentant repressiver deutscher Kultur das vielleicht etwas überzogene negative Zentrum des Films. Das zum Zerreißen gespannte Klima erinnert an die Zustände in Michael Hanekes ebenfalls "im Osten" angesiedeltem Vorkriegsepos "Das weiße Band". Wo Haneke minimalistisch eine ganze Dorfgemeinschaft in Schwarz-Weiß skizziert, trägt Kraus jedoch mit dickem Pinsel Farben auf und bringt sein mit Frankenstein-Horror gewürztes, sehr pompös anmutendes Epochengemälde dann doch als Kammerstück auf die Leinwand. Mit seinen großspurigen Bildnissen spielt er dennoch auf derselben Klaviatur von Herrschaft und Widerstand und verkündet dieselbe tödliche Botschaft.
Gruselkabinett der deutschen Vergangenheit
14 Jahre lang hat Chris Kraus auf diesen Film gewartet und ihn schließlich mit großer europäischer Beteiligung gestemmt. Die Exposition blendet mit einem holprigen Off-Kommentar in die Vergangenheit. War das wirklich nötig? Die Bilder allein sprechen eine so deutliche Sprache vom Sturm der Geschichte und vom Haus des Todes. Der Kulissenaufbau hat angefangen, als noch die Eisschollen auf dem Meer trieben.
Eisig ist hier alles, darüber helfen weder die sonnige Familienidylle am Strand noch die Vertrautheit von Oda und Schnaps hinweg. "Poll" ist ein Gruselkabinett der deutschen Vergangenheit, das Hell und Dunkel mit melodramatischer Führung zusammen zwingt und nebenbei zeigt, dass deutsche Schauspieler auch durch Leinwandpräsenz überzeugen, wenn man sie nur ins rechte Licht setzt - und bis an ihre Grenzen schubst.
Deutschland/Österreich/Estland 2010. Regie und Buch: Chris Kraus. Mit: Paula Beer, Tambet Tuisk, Richy Müller, Edgar Selge, Jeanette Hain, Enno Trebs, Yevgeni Sitokhin, Susi Stach. L: 129 Min. FSK: ab 12, ff. FBW: besonders wertvoll.