Sündenfall Winnenden: Die Ethik und der Journalismus
In Waiblingen diskutierten Journalisten den "Sündenfall Winnenden". Bei der Berichterstattung über den Amoklauf 2009 kam es zu Grenzüberschreitungen, die Angehörige noch heute belasten.
28.01.2011
Von Henrik Schmitz

 Kennen Sie Fellbach? Vielleicht Waiblingen? Ganz sicher kennen Sie Winnenden – und es wird wohl das Schicksal dieser Stadt bleiben, dass viele Menschen sie über die kommenden Jahre hinweg hauptsächlich mit dem dortigen Amoklauf in Verbindung bringen werden. Und auch beim Lokaljournalistenforum 2011 ging kein Weg an "Winnenden", das bereits als Synonym für die schlimmen Ereignisse steht, vorbei. Über Ethik wurde diskutiert – über Dinge also, die selbstverständlich sein sollten und dennoch oft nicht beachtet werden.

Die "Waiblinger Kreiszeitung" kann sich zugute halten, dass sie im Umfeld des Amoklaufs nicht der Jagd nach Sensationen verfallen ist. Schon gar nicht der Jagd auf Opfer und Angehörige. "Wir haben keine Angehörigen angesprochen, wir haben keine Minderjährigen angesprochen und wir haben nicht von Trauerfeiern berichtet", sagte Redaktionsleiter Frank Nipkau in Waiblingen. Dies sei, so habe er gedacht, im Grunde die Kurzfassung des Pressekodex. Und umso erstaunlicher sei es, dass man "mit dieser Art des Journalismus Aufsehen" erregt habe. Aufsehen im positiven Sinne. "Unsere Leser haben diese Berichterstattung begrüßt. Es hat niemanden gegeben, der angerufen und sich beschwert hat, dass bei uns etwas nicht stand, was er in der Bild-Zeitung gelesen hat."

Grenzüberschreitungen

Es war durchaus eindrucksvoll, wie in Waiblingen die Grenzüberschreitungen des Journalismus, über die damals viel geredet wurde, die aber vielleicht längst wieder vergessen sind, auch per Video wach gerufen wurden. Da gab es Fernsehreporter, die nicht die richtigen Worte fanden und die Situation mit "Chaos vom Feinsten" skizzierten. Harmlos im Vergleich zu den Reportern, die sich auf Minderjährige stürzten und ihnen Fragen stellen wie "Wie fühlst du dich?" oder "Kanntest du ein Opfer, den Täter?". Überflüssige Belanglosigkeiten also, die einerseits die Überforderung der Journalisten mit der Situation dokumentieren, aber andererseits Spuren hinterließen bei denen, die von dem Amoklauf betroffen waren. Wen geht es etwas an, wie sich ein Kind nach einem Amoklauf fühlt? Und welche Erkenntnis gewinnt der Medienkonsument?

Und es gab Grenzverletzungen, die noch weiter gingen. Reporter, die Fotos der Opfer beim Schulfotografen einkauften. Oder solche, die direkt bei den Eltern nach einem Foto fragten, erst zwei Stunden nachdem diese vom Tod ihres Kindes erfahren hatten. Und Reporter, die für Interviews mit direkten Angehörigen viel Geld zahlen. "Am meisten zahlt das chinesische Fernsehen"; sagte Nipkau.

Grenzverletzungen eindeutig. Aber wie soll man es machen? "First, do no harm", sagte Bruce Shapiro vom Dart Center for Journalism und Trauma in New York. Shapiro wusste, wovon er redet. Er ist nicht nur Journalist, sondern selbst Opfer eines Amoktäters, der ihn vor vielen Jahren unvermittelt in einem Restaurant mit dem Messer niederstach. Ein Vorfall, auf den sich die Medien damals "in der nachrichtenarmen Zeit" stürzten. Und für die Opfer, also ihn selbst und andere, machten sie es schlimmer, meint Shapiro. Sich nicht von der Schnelligkeit treiben lassen, müsse die Maxime der Journalisten sein, forderte er im Gleichklang mit dem Medienforscher Christian Schicha.

Eine Forderung, die auch vor dem Hintergrund der durch neue Techniken und damit verbundenen Verdichtung der journalistischen Arbeit besondere Bedeutung gewinnen könnte. Manchmal reiche es, nur eine Sekunde innezuhalten. "Wenn Sie einmal auf der Treppe stehen, um bei Eltern zu klingeln, die ein Kind verloren haben, stellen Sie sich die Frage: 'Was mache ich hier?'", empfahl Shapiro.

Wirtschaftlicher Aspekt

Ein Aspekt, der etwas zu kurz kam, war jedoch der wirtschaftliche. Solange die Veröffentlichung von Opferbildern und Angehörigeninterviews ein Geschäft ist, wird es jemanden geben, der das Geschäft macht. Sicherlich haben die Journalisten in Waiblingen beim Amoklauf in Winnenden einen ethischen Kompass bewiesen. Man muss aber auch festhalten, dass eine Sensationsberichterstattung dem Haus wirtschaftlich massiv geschadet hätte. "Wir müssen ja auch morgen unsere Zeitung hier verkaufen können"; sagte eine Lokalredakteurin in einem Einspielfilm sehr treffend.

Und so verwunderte es, dass niemand in Waiblingen die Forderung aufstellte, ethischen Grenzüberschreitungen die wirtschaftliche Basis zu entziehen – etwa durch saftige Strafzahlungen bei Verstößen gegen zuvor vereinbarte Selbstverpflichtungen. Sicher: Es gibt gute Argumente für das jetzige System der Selbstkontrolle durch den Presserat, der Rügen und Empfehlungen ausspricht und keine Strafen verhängt, aber Alternativen wurden nicht einmal diskutiert.

Lutz Tillmanns, Geschäftsführer des Presserates, setzt selbst nicht auf schärfere Sanktionen, sondern – so schien es – auf die Einsicht der Journalisten. Befördert vielleicht durch vermehrte Aufklärung, Information und Diskussion. Dass er damit vielleicht primär die erreicht, für die ethische Fragen im Alltag bereits von Bedeutung sind, nicht aber die, die einen anderen Berichterstattungsfokus haben, blendete er aus.

Redaktionsleiter Nipkau wiederum bemängelte vor allem einen anderen "Konstruktionsfehler" des Presserates. Dieser werde nämlich immer erst dann aktiv, wenn er einen Hinweis auf eine Grenzverletzung erhalte. Die Opfer seien dadurch gezwungen, selbst aktiv zu werden. Dies verstärke nicht nur deren Opferrolle, sondern sei auch deshalb problematisch, weil viele Betroffene nicht die Kraft besäßen, sich an den Presserat zu wenden. Wie ein "proaktiver" Presserat aussehen könnte, wurde allerdings in Waiblingen nicht erörtert. Und so blieb die Diskussion traurig ergebnislos und blieb das Gefühl zurück: Es wird wieder ein Amoklauf passieren, es wird wieder Medien geben, die sich korrekt verhalten und es wird wieder Medien geben, die dies nicht tun.

Rücksicht auf Opfer

Die Teilnehmer des Lokaljournalistenforums in Waiblingen – so viel hat die Diskussion sicher gebracht – dürften dabei eher zu denen gehören, die Rücksicht nehmen werden. Bewegend berichtete die Mutter eines der Opfer, wie sehr die Medien den Heilungsprozess der seelischen Wunden behinderten. "Mit jedem Anruf kommt es wieder hoch", sagte Gisela Mayer. Den Medien warf sie vor, dem Täter das gegeben zu haben, was sein Ziel gewesen sei: Aufmerksamkeit und – noch schlimmer – mitunter sogar Heroisierung. Den Namen des Täters in den Medien zu lesen und sein Gesicht zu sehen, empfinde sie daher als Schlag ins Gesicht.

Mayer verwies auf Beispiele, unter anderem eine Dokumentation bei "Spiegel TV", bei denen es Journalisten gelungen sei, die Ereignisse in Winnenden informativ darzustellen, den Namen des Täters aber nicht zu erwähnen. "In vielen Texten habe ich auch vermisst, dass mal klar gesagt wird, was die Tat war: absolut feige und hinterhältig", sagte Mayer. "Aus zwei Metern Entfernung ein Kind zu erschießen ist keine Heldentat. Das kann jeder, der mit einer Waffe umgehen kann."


Henrik Schmitz ist Redakteur bei evangelisch.de und auf Twitter unter @henrikschmitz erreichbar.