Wie entstand das Bayern an der Spree?
Gudrun Blankenburg: Die vom deutsch-jüdischen Kaufmann Salomon Haberland gegründete Berlinische Boden-Gesellschaft BBG erwarb in der neuen Stadt Schöneberg Flurstücke von Bauern. Sein Sohn Georg schätzte sehr das Flair der kleinen romantischen Städte Bayerns und wollte es auf die Großstadt übertragen. Als geschäftsführender Vorstand der BBG entwickelte er zwischen 1900 und 1914 das Bayerische Viertel. Als Bauherr durfte er die neu angelegten Straßen selbst benennen, die an Orte im damaligen Königreich Bayern erinnern.
Die Haberlandstraße bildet hier eine Ausnahme. Warum?
Blankenburg: Als Dank dafür, dass die Haberlands so viele zahlungskräftige Einwohner in die damals neue Stadt Schöneberg lockten, ehrte der Schöneberger Magistrat 1906 den Vater Salomon anlässlich seines 70. Geburtstags mit der Benennung einer Straße nach ihm, die Haberlandstraße, in der auch die Haberlands selber wohnten. Salomon und Georg Haberland starben, bevor die Nationalsozialisten ihr Unternehmen 1933 arisierten und den Namen Haberlandstraße 1938 tilgten. Georgs Bruder Kurt wurde im KZ Mauthausen ermordet. Erst 1996 wurde ein Teil der Haberlandstraße in Anwesenheit der renommierten Fotografin Giselè Freund, die hier aufwuchs, zurück benannt. Die Treuchtlingerstraße, ein Teil der Haberlandstraße wurde nicht umbenannt, weil die Stadt Treuchtlingen dagegen protestierte.
Wer lebte im Bayerischen Viertel?
Blankenburg: Das Bildungsbürgertum, das moderne, repräsentative Wohnungen, Vorgärten, Ruhe und gute Schulen bevorzugte und die Nähe zum Kurfürstendamm schätzte. Als Ärzte oder Notare fanden sie hier eine gute Klientel. Auch Geschäftsleute, Wissenschaftler, höhere Beamte und viele Intellektuelle zogen hierher.
Wer war der berühmteste Bewohner?
Blankenburg: Albert Einstein. Er zog 1918 hierher und heiratete 1919 zum zweiten Mal im Rathaus Schöneberg, damals noch eine eigene Stadt. In der Sieben-Zimmer-Wohnung in der Haberlandstraße wohnten auch seine Frau Elsa, ihre beiden Töchter, das Dienstmädchen und zeitweise seine kranke Mutter, die hier starb. Zu Einsteins Gästen zählten Carl von Ossietzky, Charlie Chaplin, Max Liebermann, Frank Kafka, Heinrich Mann und Max Planck. Im Kiez befand sich seine Stammbuchhandlung und sein Lieblingscafe. Als er hier wohnte, wurde ihm der Nobelpreis verliehen. Auf der Rückreise von den USA Ende 1932, beschloss das Ehepaar wegen des bedrohlich zunehmenden Antisemitismus, Deutschland den Rücken zu kehren.
Welche Prominenten sind noch mit dem Viertel verbunden?
Blankenburg: In einem winzigen Zimmer am Viktoria-Luise-Platz begann Billy Wilder seine Filmkarriere. 1921 leitete Kurt Weill den Chor der Synagoge in der Münchner Straße. Hier besuchte Marcel Reich-Ranicki das Realgymnasium. Rabbiner Leo Baeck, einer der bekanntesten Vertreter des liberalen deutschen Judentums, lebte hier bis 1943, bis er ins Konzentrationslager Theresienstadt verschleppt wurde.
Die monumentale Synagoge in der Münchener Straße prägte die Silhouette des Viertels...
Blankenburg: Dieser große Kuppelbau mit 800 Plätzen wurde 1909 eingeweiht. Der Synagogenverein Schöneberg, der das Grundstück erworben hatte, ließ zusätzlich ein Vorderhaus mit Wohnungen bauen, in dem sich auch ein Hort, eine Bibliothek sowie ein Betsaal befanden. Weil die arischen Nachbarn zu dicht wohnten, wurde diese Synagoge 1938 nicht angezündet. Während des Krieges wurde das Vorderhaus zerstört, aber das Bethaus nur leicht beschädigt. Sie wurde 1956 dennoch abgerissen, weil im Bayerischen Viertel kaum noch Juden lebten.
...aber gerade an diesem Ort ist die Erinnerung an die jüdischen Geschichte im Bayerischen Viertel wach geblieben.
Blankenburg: Auf dem Schulhof der Löcknitz-Grundschule, wo einmal die Synagoge stand, errichteten die Schüler ab 1995 eine "Denksteinmauer", die jährlich wächst. Die Schüler der sechsten Klassen recherchieren den Namen einen ehemaligen jüdischen Nachbarn, schreiben die Angaben auf einen Backstein und fügen ihn bei der jährlichen Gedenkveranstaltung der Mauer hinzu, die bereits 800 Steine umfasst. Als ich im letzten Sommer Blumen für das Denkmal mitbrachte, bedankte sich eine Dame bei mir, denn ich hatte Blumen in den Stein für ihren Vater gesteckt. Für sie ist dieser Backstein der einzige Grabstein ihres ermordeten Vaters, an dem sie trauern kann.
Wie kam Ihr Buch zustande?
Blankenburg: Nach einem langen Berufsleben als Buchhändlerin und Bibliothekerin startete ich meinen Ruhestand 1997 mit einem satirischen Roman über die Querelen, die dem Hauptstadtumzug von Bonn nach Berlin voran gingen. Dem Stadtteil Friedenau widmete ich 2006 ein Buch, das aus dem reichen Material meiner Friedenauer Stadtführungen hervorging. Nach dem Umzug ins Bayerische Viertel begann ich mit Führungen dort und daraus entstand auch das neue Buch.
Wie kam es dazu, dass Sie die deutsch-jüdische Geschichte des Bayerischen Viertels erforschten?
Blankenburg: Als ich 2002 ins Bayerische Viertel zog, fielen mir sofort die an Laternenmasten angebrachten Erinnerungstafeln an die Judenverfolgung auf. Vor meinem Haus steht die Tafel mit der Aussage, dass die Juden ab 1.9.1941 den gelben Stern tragen mussten, und zwar ab dem sechsten Lebensjahr. Auf der Rückseite der Tafel ist ein unschuldiges Kinder-T-Shirt abgebildet. Dieser starke Kontrast auf der Straße zwischen Vergangenheit und heute hat mich erschüttert. Beim Spazierengehen merkte ich, dass diese Tafeln überall im Viertel stehen. Ich informierte mich über dieses außergewöhnliche Denkmal 'Orte des Erinnerns'. Es zeugt davon, wie die hier ansässigen Juden Schritt für Schritt den unmenschlichen Gesetzen der Nazis ausgeliefert wurden, die zu Deportation und Ermordung führten.
Gudrun Blankenburg ist Stadtführerin und Autorin des Buches "Das Bayerische Viertel in Berlin-Schöneberg: Leben in einem Geschichtsbuch", zu haben im Bäßler Verlag für 11,95 Euro.
Igal Avidan ist freier Journalist in Berlin.