In Haldern, einer Ortschaft mit gut 5.000 Einwohnern, zwei Supermärkten und einem Bäcker, tratscht man gern und durchaus viel. So wie in den vergangenen Monaten hat die Gerüchteküche aber selten gebrodelt - das geben selbst alteingesessene Halderner zu. Für ein Dorf, in dem der Begriff "Transgender" bisher nicht unbedingt gebräuchlich war, wurden an der Nachrichtenfront seit dem Frühjahr 2010 Informationen von einiger Brisanz gehandelt: Der Pfarrer der evangelischen Gemeinde sei Land auf Land ab in Frauenkleidern gesichtet worden und eine Geschlechtsumwandlung stehe kurz bevor.
Die Stimme einen Ticken höher als sonst
Skepsis und Verunsicherung herrschten auf Seiten der Gemeinde und seitens ihres Pfarrers. Der sagt heute: "Die Gerüchte enthielten einen wahren Kern, denn ich hatte mir zu diesem Zeitpunkt schon seit längerem die Frage gestellt, ob ich mit meiner Seele im falschen Körper stecke." Spörkels Situation, seine Suche nach der eigenen Identität, war schwierig – auch ohne die Spekulationen um seine Person. Und dem zunehmenden Druck hielt er schließlich nicht mehr Stand: Ein Zusammenbruch im Sommer und eine Gemeinde, die plötzlich ohne Pfarrer da stand, waren die Folge. Nach einer halbjährigen Auszeit, ist er jetzt zurück, und er weiß nach Kur und Psychotherapie: "Dass ich bestimmte Seiten an mir nicht mehr verstecken und verdrängen kann."
Am 2. Januar ist Hans-Gerd Spörkel vor seine Gemeinde getreten und hat sie über seine Situation informiert – bei Kaffee und Kuchen im Anschluss an den Gottesdienst. "Morgens habe ich lange überlegt: Was ziehe ich an? Was sage ich? Welche Stimme benutze ich? Vielleicht einen Ticken höher als sonst?". Spörkel beschreibt Unsicherheiten, die er augenscheinlich bis heute nicht ganz abgelegt hat. Wenn er aber von den unerwarteten Reaktionen spricht, die seine Erklärung vor der versammelten Gemeinde auslöste, dann hört man noch jetzt, gut zwei Wochen später, die Rührung: "Es gab lang anhaltenden Beifall. Da wusste ich gar nicht mit umzugehen. Ich musste ständig mit den Tränen kämpfen." Vom 19-Jährigen bis zum 78-Jährigen hätten viele Gemeindemitglieder Verständnis und Solidarität signalisiert. Nur wenige hätten sich skeptisch geäußert.
Christliche Toleranz in der Praxis
Erleichtert war nicht nur Spörkel selbst, sondern auch das Presbyterium. Der Gemeinderat hatte Ende Dezember mit dem Kirchenkreis über die Zukunft der Pfarrei beraten, und sich schließlich einstimmig dafür ausgesprochen, den Pfarrer behalten zu wollen, der 26 Jahre lang gute Arbeit in der Gemeinde gemacht hat. Er kommt jetzt eben geschminkt zum Dienst und trägt Frauenkleider unter dem Talar. Vielleicht wird er bald eine andere Stimme benutzen - die, die einen "Ticken höher" klingt und irgendwann nicht mehr Hans-Gerd heißen sondern einen weiblichen Vornamen tragen. Aber: "Er wird die gleichen Predigten halten, und er wird die Seelsorge machen. Dass er sich in seinem persönlichen Denken und Fühlen verändert, das ist etwas anderes, aber das ist auch privat", sagt Presbyter Udo Windgaß.
Windgaß hofft, dass die Gemeinde ihren Pfarrer auch weiter unterstützt. Jetzt gelte es, christliche Nächstenliebe und Toleranz in der Praxis zu erproben. Er hat Verständnis für mögliche Verunsicherungen rund um das Thema Transgender und weiß aus eigener Erfahrung: "Wenn man sich damit nicht befasst hat, dann ist einem erstmal vieles fremd." Bei den Älteren gebe es hie und da Vorbehalte. Häufig tauche die Frage auf, wie der Pfarrer denn nun anzusprechen sei, so Windgaß. "Na wie immer", gebe er dann zur Antwort, und der Pfarrer scheint damit bis auf weiteres zufrieden zu sein. Spörkel stellt aber auch klar: "Das Ganze ist ein Prozess und ich kann nicht sagen, wie dieser Prozess weitergeht."
Ob und wie weit die Gemeinde Hans-Gerd Spörkel auf seinem künftigen Weg begleiten wird, ist nicht abzusehen. Das Presbyterium erklärt, man werde darauf achten, dass die Gemeinde am Thema Transgender nicht auseinander bricht. Spörkel ist unterdes froh, nicht in die Anonymität einer Großstadt geflohen zu sein, wozu Freunde ihm geraten hätten. "Damit hätte ich meine Wurzeln gekappt und die Chance meines Lebens verpasst." Er hofft, der Gemeinde vielleicht sogar bessere Dienste leisten zu können als bisher. "Das letzte halbe Jahr war für mich psychisch eine muntere Achterbahn. Menschen mit psychischen Problemen schätzen diesen Hintergrund. Das ist eine neue Kompetenz für mich als Seelsorger."
Christine Veenstra ist freie Journalistin in Düsseldorf.