Jedes neunte Kind in Deutschland gilt als arm
Zu wenig Geld für Essen und keine Chancen in der Schule. So lautet nach wie vor das Fazit, wenn Kinder in armen Familien leben. Dieser Fehler müsse korrigiert werden, sagt Sozialwissenschaftler Klaus Hurrelmann.
20.01.2011
Von Philipp Isenbart

"Wer kein Geld hat, soll auch keine Kinder in die Welt setzen." Zunächst tat Melanie Haag so, als hätte sie den Satz nicht gehört, den eine Fremde zu ihr und ihrer zweijährigen Tochter Lena (Name geändert) sagte. Später kamen ihr die Tränen. "Das tut weh, weil man seinem Kind auch was gönnen möchte", sagt Haag. Seit gut zwei Jahren bezieht die 26-jährige Osnabrückerin Hartz IV. Ihre Tochter gehört zu der wachsenden Gruppe von Kindern, die als arm gelten. Rund jedes neunte Kind fällt in Deutschland unter die Armutsgrenze, wie aus einer Anfang Januar veröffentlichten Studie der Bertelsmann-Stiftung hervorgeht.

Zum Vergleich: In Dänemark sind lediglich 2,7 Prozent der Kinder arm. Im OECD-weiten Vergleich liegt Deutschland der Studie zufolge bei der Kinderarmut hinter Ungarn und Tschechien auf Rang 14. Dabei gilt als arm, wer mit weniger als 50 Prozent des mittleren nationalen Netto-Haushaltseinkommens auskommen muss. Verbesserungen für Kinder aus armen Familien sind auch Gegenstand der laufenden Verhandlungen zwischen Regierung und Opposition über eine Hartz-IV-Reform.

"Wir holen auch wirklich nur das Nötigste"

"Für mich heißt Armut, sich allenfalls das Nötigste leisten zu können", sagt Haag. "Meine Tochter kann schon vieles nicht mitmachen, etwa den Zoobesuch, der selbst ermäßigt mit mehr als zehn Euro unbezahlbar ist. Schon jetzt habe ich Angst, Eltern anderer Kinder einzuladen, etwa aus dem Musikkreis meiner Tochter, weil man es von den Möbeln schon sieht, dass wir kein Geld haben."

Die finanziellen Probleme kamen, als sich die alleinerziehende Mutter von ihrem Mann trennte. "Zu zweit bleiben uns letztlich 250 bis 300 Euro pro Monat", sagt Haag. Davon gehe noch ein großer Batzen für ihre Ausbildung zur Hotelfachfrau drauf. "Da kostet ein einziges Buch schnell mal 47 Euro." Für Kleidung und Essen bleibe kaum Geld. "Meine Tochter braucht jedes halbe Jahr einen kompletten Satz neue Klamotten", sagt Haag, kleine Kinder wachsen schnell. "Wir kochen nur Tee, holen auch wirklich nur das Nötigste."

"Für Kinder von Hartz-IV-Beziehern liegt der Versorgungssatz für Essen bei 2,72 Euro am Tag", rechnet Pastor Bernd Siggelkow vor. Der Gründer und Leiter des christlichen Kinder- und Jugendwerks "Arche" ist überzeugt: "Viel zu wenig, um ein Kind vernünftig zu ernähren." So koste das Schulessen mancherorts 3,50 Euro. "Wir fordern schon seit vielen Jahren das kostenlose Schulessen, wie es etwa in skandinavischen Ländern der Fall ist", sagt Siggelkow. "Wir haben in Deutschland erhebliche Defizite in der Konzentrationsfähigkeit von Kindern, weil 40 Prozent der Kinder ohne Frühstück in die Schule gehen."

Deutschland investiert zu wenig in Bildung

Ein weiteres Ergebnis der Bertelsmann-Studie: Im Hinblick auf die soziale Gerechtigkeit habe das deutsche Bildungssystem reichlich Nachholbedarf. Die Wahrscheinlichkeit, dass Kinder aus einem sozial schwachen Umfeld durch Bildung am gesellschaftlichen Wohlstand teilhaben könnten, sei in Deutschland geringer als in vielen anderen OECD-Staaten. Das betrifft etwa den Übertritt in weiterführende Schulen. "Untersuchungen legen nahe, dass die sozialen Hintergründe zumindest unbewusst zu einer Einstufung führen. Also zu einer Haltung wie 'Der würde auch im Gymnasium gar nicht über die Runden kommen'", sagt Holger Hofmann, stellvertretender Bundesgeschäftsführer des Deutschen Kinderhilfswerks.

Zudem spielten materielle Aspekte eine wichtige Rolle bei der Schulwahl. Hofmann: "Der Besuch einer höheren Schule ist auch mit höheren Kosten verbunden, etwa für Schulhefte oder Ausflüge." Und schließlich könnten Eltern, die selber schlechte Erfahrungen mit der Schule machten, ihren Kindern kaum eine positive Einstellung zur Schule mitgeben. "Im Vergleich zu anderen Sozialstaaten investieren wir vergleichsweise wenig in Bildung und vorschulische Erziehung", kritisiert der Sozialwissenschaftler Klaus Hurrelmann. "Da liegt der Fehler, und der muss korrigiert werden", ist sich der Professor für Public Health and Education an der Hertie School of Governance in Berlin sicher.

"Wir müssen das Geld dahin lenken, wo die Kinder direkt profitieren", sagt Hurrelmann. "Und das sind eben die vorschulischen Einrichtungen, die Ganztagsschulen, die Förderinstitutionen." Noch mehr Geld direkt in die Familien zu geben, würde den Kindern hingegen nicht wirklich helfen, glaubt der Wissenschaftler. Gerade ein so reiches Land wie Deutschland müsste sich doch daran messen lassen, wie gut es den Kindern dort gehe, meint Melanie Haag. Klaus Hurrelmann formuliert es anders: "Ein demokratisches Land mit hohem ethischen Anspruch kann es sich auf Dauer nicht leisten, dass eine solche Ungerechtigkeit und Ungleichheit das Gemeinschaftsgefühl auf lange Sicht schwer verletzt und das Zusammengehörigkeitsgefühl einer Gesellschaft beeinträchtigt."

 

epd