Politik will Mädchen vor Zwangsehen schützen
Regierung und Opposition wollen Frauen helfen, die gegen ihren Willen verheiratet wurden. Der Bundestag berät heute über ein neues Gesetz: Im Ausland zwangsverheiratete Frauen sollen leichter wieder nach Deutschland zurückkehren können. Die Beratungsstelle "Mädchenhaus Bielefeld" begrüßt den Vorstoß.
19.01.2011
Von Anne Kampf

Leila sieht heute anders aus: Sie trägt ein neues Oberteil, sehr hübsch, offenbar teuer. An ihrer rechten Hand funkelt ein Ring aus Gold. Stolz zeigt die 15-jährige den Mitschülerinnen ihre neuen Sachen. Gestern hatte sie in der Schule gefehlt: Verwandte aus der Heimat ihrer Eltern waren zu Besuch, es gab gutes Essen, die Familie hat gefeiert.

Die Ferien verbringt Leila in ihrem Heimatland, zusammen mit der Familie. Als sie zurückkommt, ist nichts mehr, wie es vorher war: Sie soll heiraten. Einen Jungen, den sie zwar kurz gesehen hat, mit dem sie aber nichts anfangen kann. Leila kann die Pläne ihrer Eltern kaum verstehen, und sie kann auch nicht einschätzen, was auf sie zukommt.

Ein fiktiver Fall – exemplarisch für viele. Mädchen und junge Frauen zum Beispiel aus muslimischen Ländern wie Marokko, Aserbaidschan, der Türkei, aber auch aus christlich-orthodoxen Familien aus Griechenland, Italien, Russland, Armenien oder Georgien werden Opfer von Zwangsverheiratung. "Man muss die Thematik vom religiösen Zusammenhang trennen", betont Anja Kiefer, stellvertretende Geschäftsführerin des "Mädchenhauses Bielefeld", einer Beratungseinrichtung für von Zwangsheirat bedrohte junge Frauen. "Es geht um patriarchale Familienstrukturen," erklärt sie.

Druck, Demütigungen und Gewalt in der Familie

In manchen Fällen üben die Familien auf ihre Töchter "sanften Druck" aus, haben aus ihrem traditionellen Blickwinkel möglicherweise tatsächlich Gutes im Sinn: Sie wollen die Tochter versorgt wissen und die eigene Kultur nicht aufgeben. Doch Zwangsverheiratung ist eine Menschenrechtsverletzung. Sie widerspricht der im Grundgesetz verankerten Menschenwürde und der Gleichberechtigung von Mann und Frau, und sie widerspricht der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, in der steht, die Ehe dürfe "nur bei freier und uneingeschränkter Willenseinigung der künftigen Ehegatten geschlossen werden".

Häufig erleben die Mädchen Schlimmeres als "sanften Druck" in ihren Familien, damit sie heiraten. "Körperliche Gewalt, Schläge, Verbrühungen, sexualisierte Gewalt, Demütigungen, Beleidigungen", zählt Anja Kiefer auf. "Da kennen wir die ganze Palette." Im Mädchenhaus Bielefeld können die Mädchen sich 24 Stunden am Tag melden, und viele tun das per E-Mail. Oft zunächst mit einer sehr vorsichtig formulierten allgemeinen Anfrage – als Test, ob hier jemand ist, dem sie vertrauen können. "Die Mädchen können das erstmal nicht einschätzen, sie haben bisher in ihrem Leben wenig Vertrauen erlebt."

"Du kannst deinem Gefühl trauen!"

Fünf Beraterinnen aus unterschiedlichen Migrationshintergründen melden sich zurück – und zwar mit sehr klaren Worten. Sie geben den Mädchen zu verstehen: "Zwangsheirat ist rechtlich nicht in Ordnung. Du kannst Deinem Gefühl trauen." Was weiterhin passiert, hängt stark von der individuellen Situation der jungen Frauen ab. Sie selbst bestimmen, wer wann wo mit wem spricht; sie selbst sind die Expertinnen für die Einschätzung der Bedrohungslage.

"Bei manchen gibt es in der Familie Vertrauenspersonen, die sich einschalten können, dann ist eine Verständigung möglich", erklärt Anja Kiefer. Aber es gibt auch die komplizierten Fälle, in denen die Mädchen keinen anderen Ausweg sehen, als ihre Familie zu verlassen: "Das ist ein sehr großer Schritt. Wir besprechen die Konsequenzen mit den Mädchen."

Verhalten sich Familienangehörige besonders aggressiv, gibt es die Möglichkeit der Inobhutnahme: Das Land Nordrhein-Westfalen subventioniert zwei Schutzplätze im Mädchenhaus speziell für Mädchen, die von Zwangsheirat bedroht sind. "Die beiden Plätze sind sehr gut ausgelastet", berichtet Anja Kiefer und fordert, dass es solche Zufluchtsstätten in jedem Bundesland geben müsse. Wo sich die Schutzplätze in NRW befinden, möchte sie nicht sagen – um die dorthin geflüchteten Mädchen vor ihren Angehörigen zu schützen.

Im Extremfall mit neuem Namen in eine andere Stadt

Wie es von hier aus für die jungen Frauen weiter geht, müssen sie selbst bestimmen. Und das ist schwer: Oft befinden sie sich in einem Konflikt zwischen der Tradition der Familie und den eigenen Vorstellungen vom Leben. So sind die Wege sehr unterschiedlich. Manche schaffen es, sich in ihren Familien verständlich zu machen und kehren zurück, andere wählen mit Hilfe der Behörden ein eigenständiges Leben, zum Beispiel in einer Frauen-WG. In Extremfällen nehmen sie einen anderen Namen an und ziehen weit weg von Zuhause.

Nicht nur Mädchen sind von Zwangsheirat betroffen – auch Jungen. "Sie sind häufig nicht zur Selbständigkeit erzogen und erleben starken Druck, aber weniger Gewalt als die Mädchen," berichtet Anja Kiefer. Die jungen Männer dürfen gern im Mädchenhaus Bielefeld anrufen und sich helfen lassen, das Problem ist allerdings: Für Jungen gibt es keine Zufluchtsstätten. Anja Kiefer fände es gut, wenn in Deutschland auch "Frauenhäuser für Männer" eingerichtet würden. Auch für junge Paare, die zusammen sein möchten, aber nicht dürfen, fehlen aus ihrer Sicht Zufluchtsorte – "die werden unter Umständen von ihren Familien gesucht."

Nicht allen gelingt es, zu fliehen oder sich mit ihrer Familie zu einigen. Zurück zur fiktiven Beispielfigur Leila: Sie ist mittlerweile verheiratet worden, und zwar im "Urlaub". Sie lebt nun in einer weitgehend fremden Umgebung in einem fremden Haushalt in einem fast fremden Land. "Zuhause " wäre für sie Deutschland, ihre Sprache ist deutsch. Sie möchte so schnell wie möglich nach Deutschland zurück.

Längeres Rückkehrrecht aus dem Ausland geplant

Im Gesetzespaket der Bundesregierung, das heute im Bundestag behandelt wird, ist das Rückkehrrecht geregelt: Bei Verschleppung ins Ausland haben die Betroffenen bisher sechs Monate lang das Recht auf Rückkehr nach Deutschland - es soll auf bis zu zehn Jahre verlängert werden. Das ist aus Sicht der Online-Beratungsstelle zu begrüßen.

Schlecht findet es Anja Kiefer allerdings, dass die so genannte Ehebestandszeit von zwei auf drei Jahre verlängert werden soll: Das heißt, dass Frauen, die für die Eheschließung nach Deutschland geholt werden, erst nach drei Jahren eine Aufenthaltserlaubnis bekommen, die vom Ehemann unabhängig ist. "Dadurch verlängert sich das Martyrium der Betroffenen", sagt Anja Kiefer: Aus Angst vor Abschiebung blieben die Frauen dann in der Ehe, in der sie eigentlich nicht bleiben wollten.

Darüber hinaus soll die Zwangsverheiratung als eigener Straftatbestand ins Strafgesetzbuch aufgenommen werden. Dem schreibt Anja Kiefer vom "Mädchenhaus Bielefeld" eher eine gesellschaftliche Signalwirkung zu. Dringlicher sind aus ihrer Sicht die konkreten Hilfen für die betroffenen Frauen. Daher begrüßt sie die Forderung der Grünen in ihrem Antrag, dass die Beratungsarbeit - auch im Internet - finanziell gesichert wird, und dass Bund und Länder beim Schutz der Mädchen besser zusammenarbeiten.

Kontakt: Mädchenhaus Bielefeld, Online-Beratung zum Schutz vor Zwangsheirat, www.zwangsheirat-nrw.de, Telefon (05 21) 5 21 68 79.


Anne Kampf ist Redakteurin bei evangelisch.de und zuständig für die Ressorts Politik und Gesellschaft.