Hartz IV plus fünf Euro? Mehr als Fritten ist nicht drin
Für fünf Euro mehr pro Elternteil würde eine Familie aus Frankfurt, die "Hartz IV" bezieht, Fritten essen gehen. Ihr Hauptproblem wäre damit nicht gelöst: Der Stress. Ständig wechselnde Sachbearbeiterinnen im Jobcenter, jeden Monat die bange Frage: Kommt das Geld rechtzeitig?
19.01.2011
Von Anne Kampf

Ein Wohnblock in einer Frankfurter Siedlung, in einem der oberen Stockwerke öffnet Anoush die Tür. Ihre Wohnung wirkt "gut bürgerlich" mit braunen Möbel, Teppichen und Deko-Tellern an den Wohnzimmerwänden. Seit 20 Jahre lebt die Familie in Deutschland: Anoush, eine lebhafte, bunt gekleidete Frau, ihr eher in sich gekehrter Mann Behzad, der auffallend dünn ist, und die drei Kinder. Der Große studiert, die Mittlere macht eine Ausbildung, der Kleine geht in die sechste Klasse einer Gesamtschule.

Die Eltern, beide um die 50, haben die Diskussion um die Erhöhung der Hartz-IV-Regelsätze mitverfolgt, sie kennen sich aus. So korrigiert Anoush erst einmal: "Arbeitslosengeld II" heißt das, was die Familie bekommt, nicht "Hartz IV". Sie sind so genannte Aufstocker: Behzad verdient 700 bis 800 Euro im Monat in einem Aushilfsjob. In ihrer Heimat, aus der sie vor 20 Jahren geflohen sind, hatten beide akademische Berufe. In Deutschland werden weder die Ausbildung noch die Erfahrung anerkannt.

Allein 1000 Euro für Miete und Fahrkarten

Anoush hat vorübergehend eine "Arbeitsgelegenheit" im Kindergarten wahrgenommen, sie bekam 100 Euro im Monat für 25 Wochenstunden. "So viel ist meine Arbeit und meine Erfahrung wert?" fragt sie entrüstet. Mit Hilfe der Diakonie hat sie gerade eine Ausbildung abgeschlossen und schreibt nun Bewerbungen – ein Hoffnungsschimmer für die Familie. Der einzige Hoffnungsschimmer.

Sie rechnen ihr monatliches Einkommen und die Ausgaben gegeneinander: Maximal 800 Euro für Behzads Knochenjob, dazu zurzeit 920 Euro Arbeitslosendgeld II inklusive Miet- und Heizkostenzuschuss. Zusammen also – wenn es gut läuft – 1720 Euro. Allein 1000 davon gehen für Miete sowie Bus- und Bahnfahrkarten drauf, die sie alle fünf brauchen. Bleiben also gut 700 Euro – für Essen und Kleider und was man sonst im Alltag braucht. "Wir sind Nichtraucher und Nichttrinker" betont Behzad, ohne danach gefragt worden zu sein.

Fünf Euro mehr pro Elternteil, so lautet der Vorschlag der Koalition zur Erhöhung des Hartz-IV-Regelsatzes. Anoush und Behzad lachen darüber: "Naja, wenn das vielleicht manchen Familien hilft..." – sie selbst sind noch ganz am Ende der Fahnenstange angelangt. Auf zehn Euro kommt es ihnen nicht an. Sie würden von dem zusätzlichen Geld Fritten essen – aus Spaß.

Große Wünsche: Schuhe und Vitaminpillen

Dennoch gibt es Dinge, die die Familie braucht und sich nicht leisten kann. Der überraschende Wunsch der Mutter: "Vitamine". Sie ist chronisch krank und bekommt nur die nötigsten Medikamente verschrieben. Einmal hat ihr eine Freundin zum Geburtstag eine Dose Vitaminpillen geschenkt, sie haben 40 Euro gekostet und waren wie eine Erlösung für Anoush: "Ich hatte keine Schmerzen mehr." Für ihr Budget sind die Pillen allerdings viel zu teuer. "Wenn das Jobcenter die bezahlen würde, dann würde ich mich sehr bedanken", sagt sie.

Das geplante Bildungspaket für die Kinder von Hartz-IV-Empfängern käme ihnen zugute: Nachhilfestunden, Sportverein, 100 Euro im Jahr für Schulmaterial und Zuschüsse für das Mittagessen in der Schule. "Ja, gerne!" ruft die Mutter spontan – das alles würde helfen. Der jüngste Sohn isst mittags zuhause, denn es ist billiger, für alle zusammen ein Essen zu kochen. Der Junge war im Sportverein, flog aber raus, als der Mitgliedsbeitrag nicht mehr vom Konto der Familie abgehoben werden konnte. Jetzt spielt er Basketball, das ist kostenlos.

Musikunterricht zu teuer, Kleidung vom Flohmarkt

Den Querflötenunterricht für ihren Sohn mussten die Eltern streichen – zu teuer. "Mama, ich würde gern Gitarre spielen lernen", sagt er jetzt oft, und Anoush vertröstet ihn auf später. "Wie soll er das verstehen? Die Kinder vergleichen sich in der Schule untereinander." Ihr Eltern versuchen, ihm zumindest fünf Euro Taschengeld für den Schulausflug zuzustecken. Manchmal gibt es vom Jobcenter kleine Beträge für Schulausflüge – "Halleluja!" fällt Anoush dazu ein.

Was würden die Eltern kaufen, wenn sie - wie im Bildungspaket vorgesehen - zum Schuljahresbeginn 70 Euro und zum Halbjahresbeginn 30 Euro zusätzlich bekämen? "Schuhe", sagt Behzad ohne zu zögern. Das Halbjahr beginnt am 1. Februar. Die Winterschuhe des Jüngsten sind durch. Vater und Mutter sind genügsam, kaufen Kleidung für sich selbst auf dem Flohmarkt, doch an ihren Kindern wollen sie nicht sparen. "Sie schämen sich doch", sagt Anoush.

Aktuell hat die Familie allerdings ganz andere Sorgen: Eine Rechung über 400 Euro Nachzahlung für die Heizung ist gekommen. Anoush versteht das nicht: "Wir heizen in manchen Räumen nur eine Stunde am Tag, im Schlafzimmer gar nicht! 400 Euro, das ist furchtbar, das ist unglaublich!" Sie regt sich auf, sie hat schon bei den Stadtwerken angerufen, ob vielleicht ein Fehler passiert ist.

Bürokratie-Monster raubt den letzten Nerv

Anoush telefoniert viel. Jeden Tag. Mit den Stadtwerken wegen der Rechnung, mit dem Jobcenter wegen des nächsten Termins, mit dem Vermieter, ob er ein paar Tage länger auf die Miete warten kann, ... Hartz IV macht ihr Stress. Hartz-IV ist ein Bürokratie-Monster, das sie in den Wahnsinn treibt: Ständig wird der Familie eine neue Sachbearbeiterin im Jobcenter zugeteilt, immer wieder muss Anoush Termine wahrnehmen und die ganze Situation von vorn erklären, obwohl sich – bis auf die zeitweilige "Arbeitsgelegenheit" - gar nichts verändert hat. Zwischendurch gehen Akten verloren, immer wieder werden andere Beträge auf ihr Konto überwiesen, und zwar nie zum gleichen Tag des Monats.

"Warum?", fragt Anoush aufgeregt und fuchtelt mit dem aktuellen Bescheid (920 Euro) in der Luft herum. "Ich habe keine Zeit, jeden Tag zum Jobcenter zu gehen!" Ihr Kopf tut weh. Die Gedanken kreisen ständig darum, wie sie das Behördenchaos in den Griff bekommen und das wenige Geld vernünftig aufteilen kann. "Nicht eine Minute Ruhe, jeden Tag Stress. "

Dass sie nebenbei und trotz chronischer Erkrankungen eine Ausbildung absolviert hat, zeugt von großer Disziplin und Willenskraft. Jetzt schreibt Anoush Bewerbungen. Auch für ihren Mann erkundigt sie sich immer wieder nach beruflichen Möglichkeiten – aber auf eigene Faust, ohne das Jobcenter. "Die verstehen mich nicht", sagt Anoush enttäuscht. Sie und Behzad möchten nicht in der Abhängigkeit bleiben: "Arbeit bekommen ist besser als zuhause sitzen und denken: Ich habe kein Geld."


Anne Kampf ist Redakteurin bei evangelisch.de und zuständig für die Ressorts Politik und Gesellschaft.