Tunesiens Regierung aufgelöst - Arabische Herrscher unter Druck
Nach tagelangen blutigen Protesten in Tunesien hat der autoritäre Langzeit-Präsident Zine el Abidine Ben Ali (74) die Regierung aufgelöst und Neuwahlen angekündigt. Der Rücktritt der Regierung wurde am Freitag über die staatliche Presseagentur TAP bekanntgegeben. Zugleich haben die Behörden den Ausnahmezustand verhängt. Er gelte für das ganze Land, berichtete die offizielle Nachrichtenagentur in Tunis.
14.01.2011
Von Anne-Beatrice Clasmann

Ministerpräsident Mohamed Ghannouchi sei mit der Bildung einer Übergangsregierung beauftragt worden, die die Parlamentswahlen in den nächsten sechs Monaten vorbereiten soll. Die Parlamentswahlen würden normalerweise 2014 zusammen mit den Präsidentschaftswahlen stattfinden. Ben Ali hatte am Vorabend betont, er strebe nach 23 Jahren kein erneutes Mandat mehr an.

Eine Gruppe unabhängiger Journalisten hatte zuvor den Staatssender in Tunis übernommen. Sie forderten vor laufender Kamera eine Staatstrauer in dem Unruheland am Mittelmeer und erklärten sich mit der obrigkeitstreuen Linie des Staatssenders unzufrieden.

Nach der Verhängung des Ausnahmezustands ist der gesamte tunesische Luftraum von den Behörden gesperrt worden. Wegen der Unruhen hat das Auswärtige Amt in Berlin von Reisen in das nordafrikanische Urlaubsland abgeraten. Reiseveranstalter schätzen, dass mit deutschen Anbietern etwa 7.000 Touristen nach Tunesien geflogen sind. Neckermann-Reisende werden ausgeflogen. Tui, Rewe Touristik und auch Alltours sahen dagegen am Freitag keinen Grund, Urlauber gegen ihren Willen zurück in die Heimat zu bringen.

Proteste wie ein Flächenbrand

Ben Ali ist nicht der einzige arabische Herrscher, für den 2011 schlecht begonnen hat. In Ägypten demonstrieren die Christen, und in Algerien und Jordanien protestieren junge Menschen gegen hohe Preise und Arbeitslosigkeit.

Mit den radikalen Islamisten haben sich die arabischen Regime inzwischen alle nach dem gleichen Muster arrangiert: Der Polizeistaat schnürt den militanten Gruppen die Luft ab, während man gleichzeitig mehr Toleranz gegenüber der wachsenden Volksfrömmigkeit zeigt.

Ein Patentrezept gegen die Wut der frustrierten Jugend, die ihnen jetzt von der Straße entgegenschlägt, haben die Machthaber in Tunis, Algier, Kairo und Amman aber noch nicht gefunden. Am Freitag marschierten wütende Demonstranten vor dem Innenministerium in Tunis auf - einem Symbol des Polizeistaates.

Jordanien: Tausende auf der Straße

In Jordanien demonstrierten am Freitag mehrere tausend Menschen gegen die Regierung, obwohl die Regierung in dieser Woche nach einer ersten Protestwelle ein Maßnahmenpaket beschlossen hatte, durch das die Preissteigerungen der vergangenen Monate abgemildert werden. Sie forderten den Rücktritt der Regierung von Ministerpräsident Samir Rifai.

Der Regierungschef hatte am Donnerstag erklärt: "Wir respektieren das Recht der Bürger, ihre Meinung im Rahmen der Gesetze auszudrücken, und wir verstehen, dass sie unter den wirtschaftlichen Schwierigkeiten leiden." Gleichzeitig warnte er aber: "Wir werden die Interessen des Landes und des Volkes wahren und diese gegen jeden verteidigen, der die Situation ausnutzen will, um öffentliches oder privates Eigentum zu beschädigen."

Die zum Großteil aus den ärmeren Schichten stammenden Demonstranten, die sich zum Teil vor Moscheen versammelten, gehören nicht der oppositionellen Muslimbruderschaft an, die gemeinsam mit den Gewerkschaften für diesen Sonntag zu einer Demonstration für politische Reformen aufgerufen hat.

Besorgnis in Europa

Die sozialen Unruhen und spontanen Proteste der vergangenen Wochen beunruhigen nicht nur die Herrscher selbst, sondern auch die Europäer. Denn die wachsende Arbeitslosigkeit und die Korruption in den Staaten südlich des Mittelmeers bringt immer mehr verzweifelte junge Araber dazu, ihr Glück als illegale Einwanderer in Spanien, Italien, Deutschland, Belgien oder Italien zu suchen.

Vorbild für die Unzufriedenen der Region sind ausgerechnet die Tunesier, die in den vergangenen 20 Jahren friedlicher und unpolitischer waren als viele andere Völker in der arabischen Welt.

Wenige Tage nach den ersten gewalttätigen Protesten in Tunesien gehen auch in Algerien junge Menschen auf die Straße. Ihr Protest ebbt erst wieder ab, als die algerische Regierung eine massive Senkung der Lebensmittelpreise ankündigt.

Reaktion der Regime "eine Kabarettnummer"

"Das Beispiel Tunesiens zeigt den Bürgern überall, dass sie, wenn sie sich besser organisieren und aktiv werden, erreichen können, was sie wollen - vorausgesetzt sie sind bereit, den Preis dafür zu bezahlen", ist am Freitag in einem Kommentar der unabhängigen ägyptischen Tageszeitung "Al-Shorouk" zu lesen. Sarkastisch setzt er hinzu, die reflexartige Reaktion der arabischen Regime, die für soziale Unruhen stets das Terrornetzwerk Al-Kaida, den israelischen Geheimdienst Mossad, die CIA oder die iranischen Revolutionsgarden verantwortlich machten, sei letztlich nicht mehr als eine Kabarettnummer.

Denn auch in Ägypten und in Jordanien gibt es ähnliche Probleme wie in Tunesien und Algerien. Die Jugendarbeitslosigkeit ist hoch. Die Energie- und Lebensmittelpreise steigen. Korruption und Vetternwirtschaft verhindern, dass die Ärmsten vom Wirtschaftswachstum profitieren.

Islamisten von den Unruhen überrascht

Was Tunesien und das Königreich Jordanien von Ägypten unterscheidet, ist die Tatsache, dass sich die junge Generation besser artikulieren kann als ihre Schicksalsgenossen am Nil, die zusätzlich unter dem katastrophalen Zustand ihres Bildungswesens zu leiden haben.

Die Islamisten sind diesmal nicht die treibende Kraft. Im Gegenteil. Sowohl die islamistischen Parteien als auch die militanten Gruppen wurden von den Unruhen genauso überrascht wie die Herrschenden. Einige von ihnen versuchten nachträglich noch, auf den fahrenden Zug aufzuspringen - bisher allerdings ohne großen Erfolg.

"Ihr habt nichts zu verlieren", heißt es in einer Audiobotschaft, die diese Woche im Namen der Terrorgruppe Al-Kaida im Islamischen Maghreb auf Islamisten-Websites veröffentlicht wurde. "Schickt uns eure Söhne, damit sie von uns lernen, mit der Waffe umzugehen." Denn dann, so die verquere Logik der Extremisten, "können sie gegen die Zionisten und Christen kämpfen, die eure korrupten Herrscher decken".

dpa