Bei "Die fremde Familie" hat man oft das Gefühl, mit am Küchentisch zu sitzen.
Katja Riemann: Ja, das ist fast voyeuristisch. Im kinematografischen Sinne. Es ist eine eigene Spielweise, die Stefan Krohmers Filme auszeichnet. Es gibt eine große Synchronität in der Präzision der Spielweisen auch innerhalb des Ensembles. Es ist schön, wenn du gute Dialoge hast, starke Situationen und du dich auf das Wort verlassen kannst.
Und was hat Ihnen am Drehbuch besonders imponiert?
Riemann: Als erstes habe ich gedacht: Was geht mich Familie an!? Da kennst du dich doch gar nicht aus. Die Geschichte hat aber eine unheimliche Dimension. Das Drehbuch von Daniel Nocke besitzt eine unglaubliche Komplexität, es ist wie ein Hefeteig, der immer mehr aufgeht, da so unterschiedliche Themen behandelt werden: die Konkurrenz zwischen Bruder und Schwester. Darüber hinaus ist es eine Ehegeschichte. Und es geht auch um die Frage, was Familie heute noch bedeuten kann.
Sie spielen eine Frau, die ihren Vater nicht ins Pflegeheim abschieben will. Welche Motive treiben jene Ira an?
Riemann: Sie würde gerne die Anerkennung Ihres Vaters gewinnen – und was ist Anerkennung anderes als Zuneigung. Es ist etwas, was gefehlt hat und nach wie vor fehlt in der Beziehung zwischen Vater und Tochter. Es fehlt an Nähe. Das potenziert sich noch, als der Bruder kommt, weil er, ohne etwas zu tun, die Zuneigung seines Vaters besitzt.
Dann verlagert sich die Geschichte in Richtung Bruder und Schwester…
Riemann: Und auch hier fehlt die Nähe. Bernd traut sich nicht, sich zu öffnen, weil er Schiss hat vor Ira, und sie traut sich nicht, weil sie das Gefühl hat, dass sie sich dadurch kleiner macht oder etwas weggibt von der Stärke, die sie braucht, um diese Situation des Nicht-Geliebt-Werdens überhaupt ertragen zu können. Ich würde sagen: Das sich verändernde Verhältnis zwischen Bruder und Schwester ist die eigentliche Liebesgeschichte dieses Films. Es ist schön, dass sich beide so nahe kommen: dass sie weich werden kann und er ein Stück weit Verantwortung zu übernehmen bereit ist.
Schön an dem Film ist auch, dass die Dramaturgie keine Buhmänner braucht.
Riemann: Das sehe ich genau so. Und es gefällt mir sehr – weil ich glaube, dass die Menschen komplexer sind. Man kann Menschen nicht reduzieren auf gut sein oder böse sein. Das macht es vielleicht für den Zuschauer einfacher, weil er eine vorgefertigte Meinung bekommt. Bei unserem Film ist der Zuschauer sehr viel mehr auf sich und auf sein eigenes Leben zurückgeworfen. Und auch auf eine Meinungsbildung. Letztlich bekommt man dadurch eine andere Milde – wenn man Menschen so sein lassen kann, wie sie sind. Auch wenn man mal denkt: Mensch, ist der in dieser Situation aber ein Idiot. Das gibt den Figuren, den Geschichten eine ganz andere Dimension.
Dieser Realismus findet seine Entsprechung in den Texten. Wie sind diese Alltagsdialoge zu sprechen?
Riemann: Diese Texte sind Arbeit. Die legen sich dir nicht in den Mund. Das denkt man. Das ist wie bei Botho Strauß auf der Bühne. Im Buch sieht es nach Alltag aus, nach Tischgespräch. Dann spielst du die Szene und fragst dich: wieso kommt dieses Wort, dieser Satz nicht aus mir heraus? Der Satz verkantet sich im Mund. Das ist bei diesen Sätzen so, weil sie alle einen "Grund" haben – und wenn sie den Grund haben: nichts sein zu wollen. Daniel Nockes Sätze sind alles andere als diese alltäglichen Plätschersätze.
Und wie spielt sich das Ganze dann unter der Regie von Stefan Krohmer?
Riemann: Stefan Krohmer löst wenig auf, er dreht viele Szenen, die er mit seinem Kameramann Benedict Neuenfels sehr dicht und komplex baut, komplett durch. Das ist dann für den Schauspieler in einer Szene mit mehreren Figuren, die sich nicht selten durch mehrere Räume spielen, ein ganz schönes Gefrickel. Das Ganze hat sehr viel mit Timing zu tun und dieses Timing muss auch noch so aussehen, als sei es gerade erfunden.
"Die fremde Familie" ist kein klassischer Themenfilm. Dennoch geht es um etwas.
Riemann: Ich finde es gut, wenn es etwas zu verhandeln gibt. Im Fernsehen geht es ja nicht um die große Kunst, für mich ist das Klassenziel auf jeden Fall erreicht, wenn Menschen sich den Film anschauen und sich hinterher zusammensetzen, in ein Gespräch kommen und sich über ihre Beziehung oder sonst etwas, was der Film anspricht, austauschen. Wenn ein Film es leistet, ein Gespräch zu eröffnen, um wirklich etwas zu verhandeln, nicht unbedingt um ergebnisorientiert irgendwelche Lösungen herauszudeklinieren, sondern etwas zu bewegen, dann bin ich als Schauspieler glücklich.
In der Deutschen liebstem Kind, dem Krimi, hat man Sie lange nicht gesehen. Woran liegt es?
Riemann: Keine Ahnung. Ich muss allerdings gestehen, ich bin kein Krimimensch. Ich lese weder gerne, noch gucke ich gerne Krimis. Ich verstehe weder die Handlung, noch das ganze Gewese um dieses Genre. Ich habe aber mal in einem Schimanski-"Tatort" mitgespielt, 1989, "Katjas Schweigen" hieß der. Ein anderer Krimi, in dem ich gespielt habe, war "Angst hat eine kalte Hand" von Matti Geschonneck. Ich hab eine schlagkräftige Kommissarin gespielt. Sowas gerne wieder!
Auch im Fernsehen insgesamt sieht man Sie selten…
Riemann: Ich würde gerne wieder mehr Fernsehen machen. Ich finde den Gedanken des Fernsehspiels ganz toll. Es gibt hier andere Möglichkeiten als im Kino, Stoffe zu bearbeiten. Du bist unmittelbarer, du kannst schneller produzieren, bist oft thematisch dichter und bist nah an den Menschen. Auch Literaturverfilmungen oder historische Geschichten würden mich reizen.
Katja Riemann, 1963 in Bremen geboren, stand bereits während ihrer Schauspielausbildung für den Sechsteiler "Sommer in Lesmona" (1985) vor der Kamera. Der Durchbruch gelang ihr 1990 mit der Miniserie "Regina auf den Stufen". In den 1990er Jahren war sie das markanteste weibliche Gesicht des deutschen Films, mit Filmen wie "Der bewegte Mann", "Stadtgespräch" oder "Bandits". Riemann ist weiterhin im Kino sehr präsent ("Agnes und seine Brüder"). Für "Das wahre Leben" bekam sie den Bambi und den Adolf-Grimme-Preis.
Rainer Tittelbach ist freier Journalist und lebt in Bonn.