Schichtleiter Georg Schindler steuert im Spätdienst das zweitgrößte Kraftwerk in Deutschland. Die Anlage des Betreibers Vattenfall in Jänschwalde - nördlich von Cottbus, nahe der Grenze zu Polen - läuft auf Hochtouren. Während draußen die Kühltürme mächtig dampfen und ein Kohlezug nach dem anderen entladen wird, zeigen die Messinstrumente im Leitstand eine Leistung von rund 3.200 Megawatt an. Alles läuft nach Plan, nur der Wetterbericht sorgt für Unmut. "Wir haben Wind in Aussicht gestellt bekommen", sagt Schindler. Das bedeutet: Tausende Windräder laufen an und liefern zusätzlichen Strom. Damit die Netze nicht überlastet werden und zusammenbrechen, muss das Kraftwerk seine Leistung drosseln.
Die Leitungen reichen nicht für den Abtransport
An Strom herrscht im Osten Deutschlands kein Mangel. Dort gibt es neben konventionellen Kraftwerken auch mehr als 40 Prozent der Windräder bundesweit. Allerdings ist zwischen Rügen und Erzgebirge nicht einmal jeder fünfte Stromverbraucher zu finden. So wird an manchen Tagen deutlich mehr Strom produziert als gebraucht wird. Da es zu wenig Hochspannungsleitungen in die großen Verbrauchszentren im Westen und Süden gibt, kann die überschüssige Energie nicht vollständig abgeleitet werden; auch Speichermöglichkeiten gibt es nicht in diesem Maß. "Alles drückt in die Netze, aber keiner weiß wohin damit", sagt Schichtleiter Schindler.
Kraftwerkschef Andreas Thiem schildert die Rechtslage: "Das Gesetz schreibt vor, dass Windkraft Vorrang hat. Dem haben wir uns zu fügen. Wenn mehr Windenergie erzeugt wird als verbraucht werden kann, müssen wir diesen Strom kaufen und unsere eigene Leistung herunterfahren." Das durchkreuzt allerdings die Planungen des Betreibers, da der Strom schon langfristig im Voraus verkauft wird. "Wir müssen dann Energie zukaufen, obwohl wir genügend Strom selbst produzieren könnten", sagt der Cottbuser Vattenfall-Kommunikationschef Markus Füller. "Letztlich machen wir dadurch die Einspeisung der Windkraft erst möglich." Die Diskussion um Ökostrom wird dort aus einem anderen Blickwinkel geführt als in der Hauptstadt.
Unberechenbarer Wind
Zum Leidwesen der Ingenieure ist der Wind aber unberechenbar. Mal bläst er stark, dann wieder gar nicht. Deshalb schwankt die Leistung der Windräder im Osten zwischen null und fast 11.000 Megawatt - das würde für hunderttausende Menschen ausreichen. Manchmal gibt es so viel Strom, dass selbst Windräder abgeschaltet werden müssen und die Strombörse Energie nicht nur verschenkt, sondern sogar noch Geld dazu gibt, Hauptsache, es finden sich Abnehmer.
Damit bei all den Schwankungen das System stabil bleibt, werden die Kraftwerke mit hoch komplizierten Mechanismen geregelt. Ganz abschalten könne man sie nicht, da sonst die Netze zusammenbrechen würden, betont Systemingenieur Gerd Stecklina. "Wir müssen dafür sorgen, dass immer genügend Strom und Wärme zur Verfügung steht."
Für Kraftwerksleiter Thiem hat das Auf und Ab konkrete Konsequenzen: "Früher sind wir einmal im Jahr wegen Wartungsarbeiten außer Betrieb gegangen, aber allein 2010 gab es 78 windbedingte Stillstände der Dampfkessel." Insgesamt erzeugen dort zwölf Kessel Wasserdampf mit hohem Druck (169 bar). Dieser treibt Turbinen und Generatoren an, wodurch Strom entsteht. "Das Hoch- und Runterfahren ist Stress für die Anlage", meint Schichtleiter Schindler.
25 Millionen Tonnen CO2 im Jahr
Braunkohlekraftwerke wie Schwarze Pumpe in Brandenburg oder Niederaußem in Nordrhein-Westfalen produzieren die Grundlast an Strom, die immer verfügbar sein muss. Umweltschützer kritisieren aber scharf, dass bei der Verbrennung fossiler Energieträger sehr viel Kohlendioxid entsteht, das nach Meinung vieler die Erderwärmung befördert. So pustet das Kraftwerk Jänschwalde rund 25 Millionen Tonnen CO2 im Jahr in die Luft und gehört damit weltweit zu den Anlagen mit den höchsten Emissionen. Dennoch wird bundesweit rund ein Viertel des Stroms mit Braunkohle erzeugt. Vattenfall will das Kohlendioxid mittelfristig abtrennen und unterirdisch lagern (CCS-Technologie), dagegen gibt es aber Proteste.
In Jänschwalde denkt Stabsleiter Stecklina schon mit Schaudern an das Frühjahr, wenn sich die Solaranlagen bemerkbar machen, die ebenfalls immer weiter ausgebaut werden. Auch Sonnenstrom gehe vor: "Dann achten wir nicht nur auf Wind, sondern auch auf den blauen Himmel - und der Kraftwerksprozess wird noch unberechenbarer."