"Gewalt gegen Christen hat ganz eindeutig zugenommen"
Im Westen war das Schicksal der Christen in Kairo, Damaskus oder Bagdad lange Zeit kaum der Rede wert. In den vergangenen Jahren ist das Interesse deutlich gestiegen, denn die Situation der christlichen Gläubigen in islamischen Ländern hat sich erheblich verschlechtert. Das verheerende Selbstmordattentat in der ägyptischen Hafenstadt Alexandria, dem am Neujahrstag 21 Gläubige zum Opfer fielen, ist der traurige Höhepunkt einer dramatischen Entwicklung. Im Gespräch mit evangelisch.de äußert sich der Göttinger Theologe Martin Tamcke, einer der führenden deutschen Fachleute für den christlichen Orient, über Ursachen und Hauptschauplätze der Christenverfolgung - und was die Menschen in Europa für ihre bedrohten Glaubensgeschwister tun können. "Es ist eindeutig zu geschehen bisher", konstatiert der Wissenschaftler, der zurzeit ein Blockseminar in Atlanta/USA abhält.
06.01.2011
Die Fragen stellte Bernd Buchner

In Ägypten gibt es schon länger religiöse Spannungen. Kam das Attentat von Alexandria dennoch überraschend?

Tamcke: Nein. Man musste mit solchen Anschlägen rechnen. Es gab auch schon andere Vorfälle in dieser Form, nur nicht mit einem solchen weltweiten Echo. Die Spannungen gibt es tatsächlich schon sehr lange. Bereits in der Ära Sadat von 1970 bis 1981 hat sich die Situation der Kopten sehr verschlechtert.

Wie leben die Kopten heute in Ägypten?

Tamcke: Sie haben dieses Land über Jahrzehnte hinweg politisch entscheidend mitgestaltet. Das gilt vor allem für die Zeit, in der die Engländer in Ägypten präsent waren. Durch die Entwicklung der jüngeren Geschichte wurden die Kopten aus dem politischen Meinungsprozess mehr oder weniger ausgeschlossen. Folge ist, dass sie im Parlament kaum noch vertreten sind, es gibt nur noch einzelne Abgeordnete. Die Wahlbezirke sind so geschnitten, dass sie sich kaum stärker repräsentieren können. Es gab Phasen, in denen die Christen nur durch die vom Präsidenten ernannten Mitglieder vertreten waren, überhaupt keine gewählten Vertreter hatten. Das macht es politisch schwierig, geht aber in alle Bereiche der Gesellschaft hinein. Die Kopten hatten traditionell eine starke Bildung und eine eigene Reformbewegung, die sich vom Ende des 19. Jahrhunderts bis in die Gegenwart fortsetzt. Das ist verbunden mit einem starken Bewusstsein, das alte Ägypten zu repräsentieren. Das wird natürlich vom Staat nicht in gleicher Weise rezipiert.

Ägypten ist laizistisch, Staat und Religion sind offiziell getrennt. Welche Rolle spielen dann der christliche, der islamische Glaube?

Tamcke: Das Regime basiert nicht, wie es sich durch Wahlen den Anschein gibt, auf einer breiten Bevölkerungsmehrheit, die es legitimieren würde. Die Entwicklung hin zu einer stärkeren Islamisierung in der ägyptischen Gesellschaft - Stichwort Moslembrüder - ist zwar nicht mehr ganz so stark wie vor Jahren, aber wir sehen auf jeden Fall eine stärkere Wahrnehmung der religiösen Interessen. Nun ist nicht jeder Islamist auch ein antichristlicher Mensch. Zunächst einmal ist damit nur gemeint, dass man einen Weg sucht, der unabhängig vom westlichen Weg auf eigenen ethischen Wurzeln ruht. Erst in einem zweiten Schritt bekommt das einen Akzent in Richtung Ausgrenzung der Christen aus der Gesellschaft. Dieser Schritt ist aber unübersehbar. [Foto/dpa: Weihnachtsmesse der koptischen Christen in der Abassiya-Kathedrale in Kairo]

Christen haben überall in der islamischen Welt einen schweren Stand. Wo sehen Sie über Ägypten hinaus die größten Brennpunkte?

Tamcke: Um das an dieser Stelle zu sagen: Momentan tun sich in der arabischen Welt eher die Muslime mit den Christen schwer als die Christen mit den Muslimen. Die Fähigkeit, sich zu arrangieren, haben die Christen in vielen Ländern sehr gut unter Beweis gestellt. Sie konnten einen Ministerpräsidenten in Syrien stellen und in weiteren Ländern wichtige politische Führungsgestalten. Die stärksten Probleme gibt momentan dort, wo die politische Situation nicht geregelt ist, also im Irak oder in gewisser Weise in Ägypten - das politische Vakuum ist dort erheblich. Das gilt auch für Teile des Iran, dort geschieht es nur verdeckter. Verfolgung im eigentlichen Sinne, also dass man den Menschen Gewalt antut, beobachten wir im Moment vorrangig im Irak, in Ägypten und im Sudan. In diesen Ländern ist es am stärksten eskaliert.

Lässt sich zwischen Bedrängung und Verfolgung unterscheiden?

Tamcke: Wenn starke Restriktionen sind, die Christen rechtlich benachteiligt sind wie im Iran, wenn sie vor Gericht schlechter gestellt sind wie in Syrien, handelt es sich um Bedrängung, nicht um Verfolgung. Eine aktive Verfolgung geht davon aus, dass man gezielt Hatz macht auf Christen, die etwa mit Alkoholika handeln, dass man gezielt Gotteshäuser angreift. Wenn der Wille erkennbar ist, diese Menschen außerhalb des gesellschaftlichen Gefüges zu stellen, muss man von Verfolgung sprechen.

Sehen Sie eine signifikante Steigerung der Christenfeindschaft in den islamischen Ländern?

Tamcke: In der Tat haben wir eine wachsende Militanz, die allerdings in den vorangehenden Jahren von vielen Regimes nur unterdrückt worden. Man kann nicht sicher sein, was gewesen wäre, wenn die Menschen sich frei hätten betätigen können. Dennoch ist es ganz eindeutig, dass die Gewalt zugenommen hat.

Gibt es auch positive Beispiele für das Zusammenleben?

Tamcke: Obwohl es dort nicht leicht war, gehört dazu am ehesten der Libanon mit dem Versuch eines neuen Arrangements. Wohl wissend, dass der Libanon jetzt eine muslimische Mehrheit hat, spielen die Christen nach wie vor eine entscheidende Rolle im Staatswesen. Wir müssen hoffen, dass dieses Experiment gelingt.

Mit wem kommen die Christen besser aus, mit den Schiiten oder den Sunniten?

Tamcke: Das ist schwer zu sagen. Es gäbe gute Gründe dafür, dass bei den Schiiten von ihrer Tradition her mehr Raum war, sich mit den Christen zu arrangieren. Aber es gibt Schwierigkeiten mit beiden Gruppen.

Was lässt sich von Deutschland aus tun, um den Christen in der Welt zu zeigen, dass sie nicht alleine stehen?

Tamcke: Ein besonders gelungenes Beispiel ist das, was die bayerische evangelische Landeskirche und die Stiftung "wings of hope" im Irak tun. Sie bestärken Menschen, die in dieser Bedrängung leben, indem sie Schulen bauen, Kirchen instand setzen, die Menschen besuchen und an ihrem Weg in dieser Region teilnehmen. Gleichzeitig muss man ständig neu die Frage stellen: Ermutigt man die Menschen, diese Länder zu verlassen, und sorgt man dann für sie? Oder gibt es eine wirkliche Chance für Christen, in diesen Ländern sicher zu leben? Das geht dann zum Teil leider nur mit politischem Druck, dazu reicht der Arm der Hilfe etwa über die Kirchen nicht. Aber sie können unterstützen. Wir hätten eine Chance, wenn es die Politik vor Ort schafft, Wege zu finden, die von einem exklusiven, sich nur über den Islam definierenden Staatsmodell abweichen. Und wenn man in weiterer Zukunft zu jenen multikulturellen und multireligiösen Verhältnissen zurückfindet, wie sie dem Orient eigen sind. Zunächst bedeutet das tägliche Kleingeld: tägliche Zeichen der Solidarität. [Foto/epd-Bild: Sommercamp von "wings of hope" im nordirakischen Doore]

In Deutschland wird lebhaft über die Aufnahme christlicher Flüchtlinge aus dem Irak diskutiert...

Tamcke: ...ich habe mich in die Debatte eingemischt und einmal öffentlich mit Bundesinnenminister Schäuble diskutiert. Die Debatte bekommt immer dann Schieflage, wenn sie zum einen genutzt wird, um Islamophobie zu schüren. Das wäre sicherlich nicht die richtige Konsequenz. Andererseits ist es falsch, wenn hier eine Xenophobie wächst und man meint, diese Menschen nicht hier aufnehmen zu können. Oder wenn man meint, dass das nicht nur Christen sein dürfen, obwohl Christen tatsächlich die hauptverfolgte Gruppe sind. Das Dilemma ist, dass die Menschen eigentlich ermutigt werden müssen, in ihren Heimatländern zu bleiben - sie sind ein wesentlicher Faktor dafür, dass diese Länder wieder zu einer multireligiösen Koexistenz zurückfinden. Das ist aber nicht möglich, wenn die Christen zu einer kleinen Randgruppe reduziert werden, die keine gesellschaftliche Bedeutung mehr hat.

Wie wirkt sich die Situation der Christen in islamischen Ländern auf die Muslime im Westen aus?

Tamcke: Eine Rückwirkung, die wir feststellen, ist eine Verhärtung der Fronten beiderseits. Das versteht sich von selbst. Das Argument, dass Christen verfolgt werden, kann natürlich leicht instrumentalisiert werden, um generell den Islam zu hinterfragen. Ebenso umgekehrt: Die Tatsache, dass das zum Thema wird, kann dazu führen, dass sich Muslime in Deutschland sich einer scheinbar christlichen Gesellschaft gegenübersehen, die sie nicht in gerechter Weise wahrnimmt. Diese Folgen haben wir schon. Ich glaube trotzdem, dass das vernünftige Element überwiegen wird in unserem Land. Nichtsdestotrotz können wir es weder den muslimischen Partnern ersparen, die Situation in ihren Herkunftsländern zur Kenntnis zu nehmen, noch den Christen, dass sie jenen Gläubigen Solidarität zeigen, die in einem muslimischen Kontext leben.

Der EKD-Ratsvorsitzende Nikolaus Schneider hat mit Blick auf den Anschlag in Ägypten vor einem "Jahr der Christenverfolgungen" gewarnt. Sehen Sie die Gefahr?

Tamcke: Ich mag nicht so gerne prophezeiend durch die Weltgeschichte gehen. Aber es ist ganz klar, dass es eine sehr starke Bedrängung bis hin zur Verfolgung gibt. Dann ist es auch richtig, eine solche Warnung auszusprechen, um Bewusstsein zu wecken für die Situation der Menschen. Es ist eindeutig zu wenig geschehen bisher. Wir brauchen dieses Bewusstsein, damit den Menschen dort geholfen wird.


Professor Martin Tamcke (55) lehrt ökumenische Theologie und orientalische Kirchen- und Missionsgeschichte an der Georg-August-Universität Göttingen. Er ist einer der führenden deutschen Experten für Geschichte und Gegenwart des christlichen Lebens in muslimischen Ländern. Zu seinen Veröffentlichungen zählen "Christen in der islamischen Welt" (München 2008) und "Das orthodoxe Christentum" (2. Aufl. München 2007). Zuletzt erschien von ihm "Tolstojs Religion. Eine spirituelle Biographie" (Berlin 2010).