Ungarns Mediengesetz: Warten auf die englische Fassung
Alle empören sich über das neue ungarische Mediengesetz, das die Redaktionen des Landes der Aufsicht der Regierungspartei unterstellt. Nur: Gelesen hat es außerhalb Ungarns noch niemand - es gibt nämlich noch keine Übersetzung.
05.01.2011
Von Thomas Östreicher

"In Ungarn wurde die Pressefreiheit aufgehoben", titelte die "taz" am 3. Januar und übernahm damit den Text der ersten Seite von Ungarns größter überregionaler Tageszeitung "Népszabadság" (Foto unten). Dieselbe Empörung zeigten alle westeuropiäschen Tageszeitungen, Agenturen, Radio- und Fernsehsender, die sich mit dem Thema beschäftigten - nicht ohne Grund.

Das ungarische Parlament, in dem die rechtskonservative Fidesz-Partei von Regierungschef Viktor Orbán über eine verfassungsändernde Zweidrittelmehrheit verfügt, hatte kurz vor Weihnachten das neue Mediengesetz verabschiedet. Es sieht die Einrichtung eines "Medienrats" (NMHH) mit Mitgliedern der Regierungspartei vor, der "nicht politisch ausgewogene" Berichte mit ruinösen Geldbußen belegen darf. Journalisten sind in Belangen der nationalen Sicherheit verpflichtet, ihre Quellen offenzulegen. Das Gesetz trat am 1. Januar 2011 in Kraft - am selben Tag, an dem Ungarn turnusmäßig den EU-Ratsvorsitz übernahm.

Prompt schienen sich alle Befürchtungen zu bewahrheiten, als die NMHH das neue Mediengesetz gleich am ersten Tag nutzte, um ein Verfahren gegen den Budapester Privatsender "Tilos Radio" anzustrengen - wegen eines "jugendgefährdenden" Rap-Textes. Dessen Verantwortliche sich mit der laxen Begründung verteidigten, den Slang des Musikstücks verstehe der typische ungarischen Hörer ohnehin nicht.

"In Europa ohne Beispiel"

Ob und wie "Tilos Radio" bestraft wird, ist noch unklar. Ebenso unklar ist allerdings außerhalb Ungarns, was denn nun genau im Gesetzestext steht - er liegt schlicht noch nicht vor. Beim Saarbrücker Institut für Europäisches Medienrecht etwa möchte man sich erst dazu äußern, wenn ein autorisierter Wortlaut auf Englisch oder Deutsch vorliegt. Eine englische Fassung des umfangreichen Textes, an dem es bis zum letzten Moment noch Änderungen gegeben haben soll, wird dem Europa-Staatssekretär der ungarischen Regierung zufolge zum 7. Januar, zeitgleich mit der offiziellen Übergabe der Ratspräsidentschaft an Ungarn vorliegen.

Bislang existiert lediglich ein Gutachten der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) mit dem Tenor, das Gesetz sei eine Gefahr für kritische Medien und die öffentliche Debatte in dem Land. Die OSZE-Beauftragte für Pressefreiheit, Dunja Mijatovic, erklärte im Dezember 2010 in Wien, mit dem Gesetz drohten kritische Medien in Ungarn zum Schweigen gebracht zu werden. Das Gesetz verstoße gegen die Standards für Pressefreiheit und gefährde den Pluralismus in der ungarischen Medienlandschaft. Die vorgesehene Macht der Medienaufsicht sei "in den europäischen Demokratien ohne Beispiel" und schade der Freiheit.

Ministerpräsident Orbán erklärte daraufhin, er finde es "bedauerlich", dass die internationale Kritik "nichts Konkretes" enthalte, sondern "nur Befürchtungen und Drohungen". Sein Außenminister Janos Martonyi fügte hinzu, Kritik sei allenfalls angebracht, sobald sich die Befürchtungen, dass das Gesetz missbraucht werden könnte, "bewahrheiten".

"Politisch-ideologische Attacken"?

"Das neue Mediengesetz ist ein wahrhaft europäisches Gesetz: Es enthält keinen einzigen Passus, der nicht auch in der Gesetzgebung einzelner oder sogar mehrerer europäischer Mitgliedsstaaten gefunden werden kann", schrieb der Sprecher von Ministerpräsident Viktor Orbán in einer Stellungnahme, die jüngst in Brüssel verbreitet wurde.

So regulierten auch Italien, Frankreich und Schweden die Arbeit verschiedener Medienbereiche. "Die Option von Strafzahlungen in Höhe von mehreren hunderttausend Euro oder der Entzug der Lizenz wegen wiederholter Verstöße gegen Gesetze (...) finden sich auch in den Mediengesetzen von Deutschland, Finnland und Polen", heißt es weiter in der Stellungnahme. Ungarn sei bereit zum Meinungsaustausch, verwahre sich aber gegen "politisch-ideologische Attacken", wie sie bislang geführt würden. Zugleich betonte die Regierung, dass sie nicht beabsichtige, die Meinungsfreiheit einzuschränken - die Pressefreiheit werde vielmehr gestärkt.

Dagegen hat die EU-Kommission Zweifel an der Rechtmäßigkeit des ungarischen Mediengesetzes und prüft dessen Vereinbarkeit mit europäischem Recht. Nach anfänglichem Schweigen zeigt die Behörde inzwischen eine harte Haltung. Ein Kommissionssprecher schloss am Dienstag Sanktionen nicht mehr aus und erklärte, ein Verfahren wegen Verletzung der EU-Verträge sei unabhängig vom jeweiligen turnusmäßigen EU-Vorsitz.

mit Material von dpa

Thomas Östreicher ist freier Mitarbeiter bei evangelisch.de.