Böhmische Brüder: Seelsorge in extremer Diaspora
Bibelstunden, Gottesdienste, Jugendarbeit und Kirchenchor – auf den ersten Blick sieht das Gemeindeleben bei den Böhmischen Brüdern jenseits der bayerisch-tschechischen Grenze fast so aus wie bei den evangelischen Kirchengemeinden im Dekanat Selb. Aber eben nur fast.
03.01.2011
Von Jürgen Henkel

Die kirchliche Arbeit läuft in der Tschechischen Republik unter ganz andere Rahmenbedingungen ab, wie jüngst eine Delegation des Selber Pfarrkapitels bei einer Begegnung in Teplá (Tepl) mit Pfarrern der Böhmischen Brüder erfahren konnte. Von Bayern aus pflegt das Dekanat Selb besondere Beziehungen zum Westböhmischen Seniorat, der vergleichbaren Kirchenebene.

Die Arbeit der Pfarrer ist immer auch missionarisch geprägt, ob im Gemeindeaufbau oder in der Schule. Hilfreich ist, dass Religionsunterricht auch an staatlichen Schulen als freiwilliges Fach durchaus möglich ist. Ab sieben Schülern, die dies wünschen, muss die Schule den Unterricht anbieten. Wichtig ist dabei die persönliche Einstellung der Direktoren: Wo ein Christ die Schule leitet, kann es auch schon mal für nur zwei Schüler Religionsunterricht geben.

Zentrale Rolle des Religionsunterrichts

Etliche der Pfarrer des Westböhmischen Seniorats sind mit Religionsunterricht in den Schulen präsent – und verstehen diesen durchaus als Kulturvermittlung wie auch als missionarische Gelegenheit. Dabei ist vor allem im Bildungsbereich Elementararbeit angesagt: In dem sehr stark säkularisierten Westböhmen haben viele Menschen keine Ahnung mehr von den Grundlagen des christlichen Glaubens. Für viele Schüler bietet der Religionsunterricht den "Erstkontakt" zum Christentum.

Die Böhmischen Brüder hatten sich im 15. und 16. Jahrhundert von der Kirche losgesagt und wandten sich später der lutherischen oder reformierten Lehre zu. In Tschechien zählt die Gemeinschaft heute rund 100.000 Gläubige in etwa 250 Gemeinden. Sitz der Kirchenleitung ist in Prag. Das Westböhmische Seniorat umfasst 23 Gemeinden und rund 8.000 Gläubige und erstreckt sich von Asch und Eger im Westen bis Karlsbad und Ostrov im Norden und Pilsen im Osten, im Süden bis Rokycany und Klattau.

Finanzielle Probleme kennzeichnen die Lage der meist kleinen Kirchengemeinden. Die Pfarrer beziehen ihr Gehalt zu rund 80 Prozent vom Staat, der Rest kommt aus einem "Personalfonds" der Gesamtkirche, wofür jede mit einem Pfarrer oder einer Pfarrerin besetzte Kirchengemeinde regelmäßige jährliche Zuschüsse zahlen muss. Das übersteigt die finanziellen Kräfte mancher kleinen Gemeinde. Entsprechend niedrig sind die Pfarrergehälter. Doch die schwierigen Rahmenbedingungen und die kleine Zahl schweißt Geistliche und Gemeinden besonders zusammen.

Gemeinden wollen einladend sein

Vor allem die Jugendarbeit und die Chöre verschaffen den Kirchengemeinden Aufmerksamkeit im öffentlichen Leben. Die Chöre treten zu unterschiedlichen Anlässen auf, auch zu weltlichen. Die Gemeinden wollen einladend sein. "Unser Bild von Kirche ist das eines offenen Hauses, bei dem Türen und Fenster weit geöffnet sind, und wenn nötig auch der Schornstein", formuliert Pfarrerin Renata Šilarová, die die Gemeinde in Tepl betreut. Und Pfarrer und Ehrenamtliche machten bei ihrer Gemeindearbeit auch mehr ermunternde als negative Erfahrungen.

Die kirchliche Arbeit ist geprägt von manchen sozialen Problemen im Land. "Es gibt einen Zerfall der Familien, viele Scheidungen und Trennungen, worunter vor allem die Kinder leiden", sagt Šilarová. "Wir wollen zeigen, dass Kirche nicht nur bei den großen Katastrophen hilft, sondern auch bei den Problemen, die die Menschen im Alltag und in der Familie bewegen und bedrücken."

Ein Schwerpunkt des Gemeindeaufbaus ist die Jugendarbeit. Der junge Pfarrer Jan Satke aus P?eštice ist hier besonders engagiert. "Jugendliche sollen motiviert werden, sich am Gemeindeleben zu beteiligen", sagt er. Dabei gibt es Aktivitäten auf allen Ebenen: von der Gemeinde über das Seniorat bis zur Gesamtkirche. Die Treffen werden von Pfarrern oder Jugendleitern geleitet und wollen neben sinnvoller Freizeitbeschäftigung auch Elementarwissen über den christlichen Glauben vermitteln – und beides soll Spaß machen. In sechs der 23 Gemeinden des Westböhmischen Seniorats gibt es stabile Jugendgruppen, an deren Treffen zwischen zehn und zwanzig Jugendliche teilnehmen.

Den christlichen Lebensstil kennenlernen

Die kirchliche Jugendarbeit hat dabei ein ganz besonderes Ziel. Satke hält fest: "Unsere Jugendlichen brauchen auch christliche Vorbilder für ihr Leben, sonst orientieren sie sich nur an den Vorbildern und Idolen der Welt. In den Jugendgruppen sollen sie christlichen Lebensstil kennenlernen und eine Gemeinschaft erleben, die sie sonst nicht kennen." Während sonst vor allem in wirtschaftlichen Problemregionen "Rauchen und Trinken" der Lebensinhalt vieler Jugendlicher ist, lernen sie in der christlichen Jugendgruppe, sich sinnvoller Freizeitbeschäftigung zu widmen. "Die Jugendlichen hören von Gott und der Bibel, viele kommen so zum Glauben", erläutert Satke.

Auch die Sozialarbeit für Straßenkinder steht im Fokus der Pfarrer. Doch für nachhaltige Projekte fehlt es am nötigen Geld. Manche Zahl lässt dabei durchaus aufhorchen: Obwohl die Mitgliederzahl in den Gemeinden sehr niedrig ist und einige auch wegen Nachwuchsmangel ums Überleben kämpfen, ist die Zahl der Gottesdienstbesucher manchmal überraschend hoch. So kommen von den 200 Seelen der Gemeinde in der 3.000 Einwohner zählenden Stadt Tepl zwischen 60 und 100 regelmäßig zum Gottesdienst.

Dies mag auch an der extremen, quasi doppelten Diasporasituation liegen: Man ist nicht nur als Kirche der Böhmischen Brüder eine Minderheit, sondern die meisten Menschen in Tschechien – geschätzte 80 Prozent – sind überhaupt areligiös und ungetauft. In einer solchen Lage ist der Glaube der Gemeindeglieder dann doch stark: Die Kirche und ihre Gemeinde vor Ort sind den Menschen wichtig. Das zeigt sich auch in der Eigenleistung. Schon aus finanziellen Gründen müssen die Gemeindeglieder selbst bei Baumaßnahmen massiv mit anpacken. Das schmuck eingerichtete Gemeindehaus und den Betsaal in Tepl etwa haben die Gemeindeglieder selbst hergerichtet.