TV-Tipp des Tages: "Ein halbes Leben" (3sat)
Zwei Väter, eine ermordete Tochter und Rachedurst: Daraus ist das ZDF-Krimidrama "Ein halbes Leben" gestrickt. Parallel wird die Geschichte des trauernden Vaters und des Mörders erzählt.
30.12.2010
Von Tilmann P. Gangloff

"Ein halbes Leben", 4. Januar, 20.15 Uhr in 3sat

Es fällt einem nicht schwer, diesen Typen nicht zu mögen. Und das nicht nur, weil er sich mindestens zweier Sexualdelikte schuldig gemacht hat; "Triebtäter" nannte man diese Männer früher. Josef Hader, als Mannsbild ohnehin eher aus der Kategorie "interessant" als "attraktiv", spielt diesen Ulrich Lenz als Menschen mit kontrolliert leeren Gesichtszügen: weil er seinen Trieb bezwingen will, muss er alle Gefühle irgendwo in seinem Inneren einsperren. Nur ein Wesen schafft es, ihn aus der Reserve zu locken, und das ist seine kleine Tochter. Wenn man sieht, zu welcher Zärtlichkeit das potenzielle Monster fähig ist, wünscht man Lenz (und vor allem seiner Tochter), er möge nie entdeckt werden.

Aber das geht nicht, denn in dieser klug konstruierten Geschichte des Österreichers Nikolaus Leytner ("Der Besuch der alten Dame") gibt es einen Gegenspieler: Peter Grabowski, den Vater des letzten Opfers, einer jungen Frau, die Lenz vor vielen Jahren vergewaltigt und ermordet hat. Matthias Habich legt diesen Grabowski ganz ähnlich an wie Hader den Straftäter. Auch Grabowski versucht, seine Trauer wegzuschließen, um weiterleben zu können. Anders als seine Frau (Franziska Walser) aber gelingt es ihm nicht, loszulassen. Er bleibt wie besessen von der Aussicht, dass der Mörder eines Tages doch noch gefasst wird.

Leytner schlägt mit seiner Handlung einen Bogen über eineinhalb Jahrzehnte hinweg. Die Fortschritte der Kriminaltechnik sorgen so für den nötigen Spannungsverstärker: Immer wieder macht der ermittelnden Kommissar (Wolfgang Böck) seinem Freund Grabowski Hoffnung, die Verfeinerung der DNA-Analyse könne zur Ergreifung des Täters führen. Am Ende ist es tatsächlich so weit, und Grabowski muss erkennen: Die Verhaftung von Lenz geht nicht mit der erhofften Befreiung einher.

Leytner verzichtet konsequent darauf, sich auf die Seite einer der beiden Hauptfiguren zu schlagen. Die Inszenierung vermeidet zudem jede Aufregung. Die Kamera (Hermann Dunzendorfer) bleibt stets sachlich und beobachtend; der Film ist voll und ganz auf die Darsteller zugeschnitten. Nur gelegentlich erlaubt sich Leytner Schlüsselbilder, wenn beispielsweise Graboski im Zimmer seiner Tochter sitzt und zum Oberlicht hinausschaut: ein Gefangener seiner inneren Leere, weshalb man prompt man an eine Gefängniszelle denkt. Der gelbe Kinderdrachen, der vor dem Fenster vorbeifliegt, wirkt wie eine traurige Reminiszenz an glücklichere Tage. Tatsächlich wird später auch Lenz in seiner Zelle zum Oberlicht hinausschauen, und auch nun segelt der Drachen vorbei; in all seiner Vieldeutigkeit ein schmerzlich schönes Bild.


Der Autor unserer TV-Tipps, Tilmann P. Gangloff, setzt sich seit über 20 Jahren als freiberuflicher Medienkritiker unter anderem für "epd medien" und verschiedene Tageszeitungen mit dem Fernsehen auseinander. Gangloff (geb. 1959) ist Diplom-Journalist, Rheinländer, Vater von drei Kindern und lebt am Bodensee. Er gehört seit Beginn der 1990er Jahre regelmäßig der Jury für den Adolf-Grimme-Preis an und ist ständiges Mitglied der Jury Kinderprogramme beim Robert-Geisendörfer-Preis, dem Medienpreis der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD).