Als Kind war es für mich fast eine Ewigkeit, zu Weihnachten mit dem Auto rund 1700 Kilometer aus Mexiko-Stadt in den Norden des Landes zu fahren, um die Festtage gemeinsam mit der Familie meiner Mutter zu feiern. Wir brachen in Mexiko-Stadt auf, einer vom Smog grauen Großstadt, die von Vulkanen eingerahmt ist und auf über 2200 Meter Höhe in einen auslaufenden Tal liegt, und mussten zunächst die umgebenden Berge mit dem Auto erklimmen.
Dazu hörten wir oft von Karajans „2001: Odyssee im Weltraum” im Kassentenspieler des Autos. Zur Musik passte auch der Name unseres Wagens, ein Ford Galaxy aus den 70er Jahren, der für ein Kind fast die Ausmaße eines Raumschiffes hatte. Als einen Flug in eine andere Welt erlebte ich die Reise: Wir durchquerten die alpin anmutenden Landschaft in Toluca, hatten glasklare Nächte in Zacatecas und erlebten die weite und imposante Wüste von Torreón, wobei wir in der weiten kalten Dunkelheit das Heulen der Kojoten hörten, bis wir endlich durch Nussbaum-Alleen fuhren, und an unserem Ziel landeten: Delicias, einer Kleinstadt und Oase in der Wüstenlandschaft Chihuahuas
Die Strapazen der Reise lösten sich so in Luft auf, sobald wir mit Küssen und Umarmungen willkommen geheißen wurden. Es war, als ob mehrere Springteufel aus ihren Dosen gleichzeitig gesprungen wären. Uns begrüßten meine Großeltern Tita und Eliseo, elf Tanten und Onkel - einige trugen Cowboy-Hüten und -Stiefel und sahen aus, als wären sie gerade einer alten Postkarte aus der Zeit von Pancho Villa entflohen – hinzukamen Schwager und Schwägerinnen, der zumindest 20 Cousins und Cousinnen. Mit Gebell begrüßten uns außerdem der Schäferhund Firpo und der Pekinese Chico.
Tortillas und frijoles in bacalao
Alles roch, schmeckte, sah und fühlte sich an nach einer fröhlichen Vorbereitung für das berauschende Fest am folgenden Tag: In der geräumigen Küche, während viele Hände unter Zeitdruck arbeiteten, michten sich die Gerüche warmer Tortillas – genannt burritos - , schwarzer Bohnen - frijoles - von Weihnachtsgebäck, Garnelen mit Knoblauch und Stockfisch in Tomatensauce – bacalao - , dem Truthahn im Ofen, von Schinkenbraten mit Ananasstücken und Preiselbeersoße, von Spaghetti al olio, von Waldorfsalat garniert mit frischen Walnüssen und Äpfeln, die auf einer Ranch geerntet worden waren, von einer großen Schokoladentorte, von ponche, einem traditionellen Getränk aus Zuckerrohr, Likör und getrockneten Obst.
In den anderen Zimmern des Hauses waren Weihnachtsdekoration aufgebaut, der lange Tisch im Wohnzimmer war voller Leckereien, die zu kleinen Pyramiden aufgebaut waren. Jedes Jahr wurde für den Weihnachtsschmuck eine andere Farbe und andere Motive gewählt. In den verschiedenen Zimmer machten sich die weiblichen Familienmitglieder schick. Sie wetteiferten mit dem Make-up und modischen und festlichen Kleidern. Während des Ankleidens tauschten die Tanten und Cousinnen ihre neuesten Geschichten aus.
Bescherung bis tief in die Nacht
Der Höhepunkt für uns Kinder waren die Geschenke – bei so vielen Familienmitgliedern hatten wir es so geregelt, dass jedem jemand zugelost war, dem man ein Geschenk machte. Bei all den Vorbereitungen und dem Feiern gab es natürlich keine Zeit für besinnliche Momente oder den Kirchgang. Beim Verteilen der Geschenke wurde jeder aufgerufen, zu jedem Geschenk gab es eine lustige Bemerkung. Bei so vielen Personen dauerte die Bescherung bis tief die Nacht. Wenn wir zuz müde wurden, suchten wir Kinder uns im Haus ein Eckchen zum Schlafen und vielen beim Gelächter der Erwachsenen in den Schlaf, währen die Feier bis in die Morgenstunden weiterging. Es war laut, fast dekadent und es war gut so!
Nach dem Fest (und dem unvermeidbaren Kater danach) besuchten meine Eltern, Geschwister und ich die Großtante Chabelina. Sie lebte weitaus bescheidener. Faszinierend war für uns Kinder aber ihre große Krippe, die vor dem engen Eingang aufgestellt war und bis ins Wohnzimmers hinragte. In der judäischen Krippenlandschaft meiner Tante Chabelina gab es Platz sogar für die kleine rote Teufel. Zwischen der himmlische Krippe und dieser Hölle, deren Laster und Sünden figürlich dargestelt waren, floß sogar ein echter Wasserfall, der so das Gute vom Bösen trennte.
Diese Art, Weihnachten zu feiern, war für mich immer etwas Besonderes. Dazu muss man wissen, dass mein Vater zur kleinen Minderheit von Protestanten in Mexiko gehört, während die Familie meiner Mutter traditionell katholisch ist, wir die meisten Mexikaner. Was ich hier im Norden Mexikos bei der Familie meiner Mutter erlebte, vermisste ich im Alltag unseres streng protestantisch geprägten Familienlebens in Mexiko-Stadt.
Überschwängliches Feiern und Besinnung zusammen
Als Protestanten grenzten wir uns vom katholischen Umfeld ab und nahmen an vielen Bräuchen der Weihnachtszeit nicht teil. Als Kind hatte ich oft gehört, dass wir Protestanten “nicht an die Jungfrau Maria glauben” und deswegen konnte ich nicht mitsingen, dass “Maria Mutter Gottes war” - so wie es bei einem traditionellem Lied heißt, das bei den „posadas“ - der Herbegssuche - gesungen wird. In den neun Tage vor Weihnachten besucht man sich in der Nachbarschaft gegenseitig und spielt mit Gesängen die Herbergssuche aus der Weihnachtsgeschichte nach. Eine Gruppe spielt Josef und Maria, die mit Gesängen Einlass in die Häuser begehren. Die Hausbewohner lehnen zunächst ab und bezeifeln, dass die Herbergssuchenden tatsächlich Maria und Josef seien. Nach mehreren Wechselgesängen zwischen den Gruppen drinnen und draußen erkennen die Hausbewohner dann doch, dass es wirklich Maria und Josef sind, die eine Herberge suchen und laden sie zu sich nach drinnen ein, wo man dann gemeinsam feiert.
Zu Weihnachten in Chihuahua kamen mein nüchterner Calvinismus mit der barocken Welt der Familie meiner Mutter zusammen, aber ich empfand dies seltsamerweise nicht als Widerspruch, sondern als Bereicherung meiner Kinderwelt: Daheim gab es - falls wir es einmal zu Weihnachten nicht nach Chihuhua schafften - die besinnlichen, protestantischen Gottesdienste, bei denen wir am Heiligabend mit Chorgesang und Krippenspiel - als Ausdruck unserer Ehrfurcht vor Gott knieten wir sogar – feierten und mit einem bescheidenen Frühstück in der Gemeinde am Morgen des ersten Weihnachtstages abschlossen. In Chihuahua erlebte ich berauschende Familienfeste, bei denen auch mal ein betrunkenen Onkel mit dem Gewehr sinnlos in die Luft ballerte. Das überschwängliche Feiern und Besinnung gehören für mich also seit meiner Kindheit zu Weihnachten, so wie in Deutschland Lebkuchen und Stollen zum Christfest gehören.