Juristen sehen das neue Hartz-IV-Gesetz als "problematisch"
Die Armen in Deutschland profitieren davon - zumindest nach Auffassung der Bundesregierung: Der neue Gesetzentwurf zu Hartz IV soll das menschenwürdige Existenzminimum sichern. Der Regelsatz für Erwachsene soll ab 1. Januar um fünf Euro erhöht werden, Kinder aus armen Familien können ein Bildungspaket beanspruchen. Bei Rechtsexperten fallen die neuen Vorschriften jedoch durch.
14.12.2010
Von Frank Leth

"Die Hartz-IV-Probleme sind nicht gelöst", ist der Rechtswissenschaftler Stephan Rixen von der Universität Bayreuth wenige Tage vor der mit Spannung erwarteten Abstimmung am Freitag im Bundesrat überzeugt. Die Gesetzesreform wurde notwendig, weil das Bundesverfassungsgericht am 9. Februar die bisherige Berechnung der Hartz-IV-Regelsätze als verfassungswidrig gewertet hat. Sie seien intransparent und willkürlich festgelegt worden. Nach dem Urteil des Gerichts in Karlsruhe sollen die Sätze auf einer empirischen, nachvollziehbaren Grundlage beruhen. "Wie solch eine 'empirische Grundlage' aber aussehen soll, weiß keiner so genau", sagt Rixen.

Friederike Mußgnug vom Bundesverband der Diakonie kritisiert, dass die Bundesregierung mit Rechentricks eine notwendige, deutliche Erhöhung der Regelsätze verhindert habe. "Bislang hatte sich der Bedarf bei Hartz IV für Alleinstehende an den Einkommen der unteren 20 Prozent der Erwerbsfähigen orientiert", erklärt Mußgnug. Künftig würden aber nur noch die unteren 15 Prozent als Berechnungsgrundlage herangezogen. Eine Begründung für diese willkürliche Änderung gebe es nicht. Die Folgen für die Armen seien bitter: Das ihnen zugebilligte Existenzminimum werde auf diese Weise abgesenkt.

"Systematische Untererfassung des Bedarfs"

Es gebe eine systematische Untererfassung des Bedarfs, bestätigt Reiner Höft-Dzemski vom Deutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge. "Daher können Betroffene auch nichts ansparen - beispielsweise für einen nötigen Kühlschrank." Auch Blumen, Tabak oder Alkohol wird Hartz-IV-Empfängern in den Regelsätzen nicht mehr zugestanden. "Was den Menschen ein bisschen Freude machen könnte, wurde aus den Regelsätzen herausgenommen", sagt Höft-Dzemski.

Für bedenklich hält Mußgnug die beabsichtigte neue Regelung bei den Unterkunftskosten. Bislang mussten Kommunen die tatsächlichen angemessenen Unterkunftskosten bezahlen. Künftig soll diese mit Pauschalen abgegolten werden. Doch wie weit die Kommunen die Pauschalen senken dürfen, sei offen.

Bernd Schulte vom Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Sozialrecht in München übt wiederum Kritik am Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Darin sei der Gleichheitsgrundsatz vernachlässigt worden; es gebe in Deutschland eine massive Benachteiligung von Asylbewerbern. Denn diese erhielten nur knapp 225 Euro monatlich an Sach- und Geldleistungen. Die neuen Sätze für einen alleinstehenden Hartz-IV-Empfänger belaufen sich dagegen auf 364 Euro monatlich. "Bei Asylbewerbern und Hartz-IV-Empfängern wird also eine unterschiedliche Menschenwürde vorausgesetzt", kritisiert Schulte.

Betroffenen bringt es nichts, wenn sie klagen könnten

Doch wie sollte die Höhe des menschenwürdigen Existenzminimums festgelegt werden? Mit juristischen Mitteln lässt sich das Armutsproblem jedenfalls nach Auffassung des Juristen Rixen nicht lösen. "Es bringt den Betroffenen nichts, wenn sie klagen müssen, um vor dem Bundesverfassungsgericht recht zu bekommen", sagt er. Es seien neue politische Institutionen erforderlich, die aktuell und regelmäßig auf die Armutsproblematik reagieren können. Das Parlament sei hierfür ungeeignet.

Der Münchner Jurist Schulte plädiert für die Einführung von Mindestlöhnen. "Ein gesetzlicher Mindestlohn kann als Richtschnur für das menschenwürdige Existenzminimum dienen", sagt Schulte. So seien etwa in Frankreich, einem Land mit gesetzlichem Mindestlohn, die Sozialhilfeleistungen um etwa 100 Euro im Monat höher als bei uns.

So sehr sie auch unterschiedliche Lösungen sehen, einig sind sich die Experten über das neue Hartz-IV-Gesetz der Bundesregierung: "Das wird beim Bundesverfassungsgericht landen", sagt Rixen voraus. Nach der Abstimmung am Freitag geht es aber wohl erstmal in den Vermittlungsausschuss - weil das Saarland mit seiner Jamaika-Koalition sich enthalten wird, bekommen CDU und FDP keine Mehrheit zusammen.

epd