"Aufklärung über Videospiele ist ein Kampf gegen Windmühlen"
1378 Kilometer war die deutsch-deutsche Grenze lang. Und "1378(km)" heißt das Kunstprojekt, das Jens M. Stober bei der Vorstellung im Oktober einige Aufregung bescherte. "1378(km)" ist eine Computerspiel-Modifikation, in der der Spieler entweder die Rolle eines DDR-Flüchtlings oder eines DDR-Grenzsoldaten einnehmen kann. Heute abend (10. Dezember) wird es erneut vorgestellt. Ein Interview mit dem Macher des umstrittenen "Serious Game" über sein Werk und Videospiele allgemein.
09.12.2010
Die Fragen stellte Hanno Terbuyken

Sie sind der Kopf hinter "1378(km)", dem umstrittenen "Grenzer-Shooter", wenn man es so nennen möchte. Haben sie mit den Reaktionen gerechnet, die nach der ersten Ankündigung am 3. Oktober 2010 auf sie zugekommen sind?

Jens M. Stober: Mit dieser Reaktion konnte ich so nicht rechnen. Ich war da ein bisschen überrumpelt, dass es so weit gekommen ist.

Was war passiert? Wie haben sie das erlebt?

Stober: Ich habe eine Pressekonferenz gegeben im Rahmen des Spieles. Als da mehrere Fernsehteams aufgelaufen sind, war mir schon klar: Aha, das interessiert dann doch noch mehr, als wir erwartet hatten. Als sich auch noch Repräsentanten von Nachrichtenagenturen unter den Gästen befanden, wussten wir, dass es dann ein bisschen was größeres wird. Wobei man dazu sagen muss: die Berichterstattung an dem Tag und an den Tagen danach war eigentlich objektiv und auch ein bisschen kritisch, womit ich ja kein Problem habe. Aber dann ist die Bild-Zeitung in das Thema eingestiegen, hat eigentlich komplett falsch über 1378(km) berichtet und diese Hetzjagd begonnen.

Was hat denn die Bild falsch berichtet?

Stober: Die Bild-Zeitung hat das Spiel so dargestellt, dass man möglichst viele Flüchtlinge erschießen muss und zugleich nur den Aspekt dargestellt, dass das ein Ballerspiel ist, bei dem man Flüchtlinge erschießen muss. Das falsch. Man muss ausdrücklich sagen, dass man das Spiel nicht gewinnen kann, wenn man schiesst.

[listbox:title=Mehr im Netz[Die offizielle Seite von 1378(km)]]

Wie läuft es in dem Spiel konkret?

Stober: Sie können in beide Rollen schlüpfen, einmal die Rolle des Flüchtlings und einmal die Rolle des Grenzsoldaten. Der Flüchtling muss natürlich die Grenze überqueren beziehungsweise den Todesstreifen überschreiten, was nicht so einfach ist aufgrund der verschiedenen Sperrelemente. Ein Grenzsoldat hat den Schießbefehl, hat aber auch die Möglichkeit, den Flüchtling zu verhaften, ohne Gewalt. Dafür bekommt er positive Punkte. Er bekommt aber auch positive Punkte fürs Abschießen, wird sogar noch mit einem Abzeichen belohnt, aber nach erneutem Abschuss eines Flüchtlings wird er umgehend aus dem Spiel hinausgezogen, in die Zukunft teleportiert und findet sich in einem Mauerschützenprozess wieder.

Kann der Grenzer auch selber fliehen?

Stober: Der Grenzer hat die Möglichkeit, auch selbst zu fliehen. Das ist dann eine Eigendynamik, die sich da entwickelt. Die Flüchtlinge haben ja auch die Möglichkeit, mit dem Grenzsoldaten Kontakt aufzunehmen, ihn davon zu überzeugen, ihnen zu helfen oder mit ihnen zusammen zu fliehen. Wenn der Grenzsoldat dann in die Rolle des Flüchtlings schlüpft, bekommen die Flüchtlinge die Punkte, wenn der Grenzer die Grenze überschreitet. Interessant ist dann, zu sehen, wie die anderen Grenzsoldaten im Spiel darauf reagieren, wenn einer aus ihren eigenen Reihen das Team wechselt.

 

"Alle Vorwürfe, die mir gemacht wurden,

kann ich widerlegen, und zwar mit dem einfachen Satz,

dass die Leute das Spiel noch nicht kennen"

 

Wie viel Recherche steckt hinter so einem Spiel?

Stober: Ich habe mich die längste Zeit mit der Recherche beschäftigt, das war knapp ein Dreivierteljahr bei einem Jahr Entwicklungszeit. Ich habe viele historische Dokumente durchstöbert und überlegt, wie man die Geschichte in ein Spielkonzept mit seinen Gameplay-Mechanismen übertragen kann. Natürlich spielt auch die historische Korrektheit der Grenzanlagen eine wichtige Rolle. Ich habe versucht, sie so detailgetreu wie möglich nachzubauen. Nach der Veröffentlichung des ersten Levels am 3. Oktober wollte ich mich noch auf eine Recherchetour quer durch Deutschland begeben, um mit Zeitzeugen zu reden und weitere Standorte in die Spielwelt zu übertragen. Das hat dann nicht geklappt.

In den Debatten über Videospielen gibt es einen klaren Generationenkonflikt: Wer mit Videospielen aufgewachsen ist, steht dem Medium in der Regel deutlich offener gegenüber. Kann auch die ältere Generation das Medium verstehen?

Stober: Das ist eine schwierige Frage, und ich glaube nicht, dass das bei jedem funktionieren wird. Gerade in der Generation, die ohne Computer aufgewachsen ist und das erst langsam kennenlernt, gibt es oft eine pauschale Blockadehaltung. Mit den Computerspielen muss man sich ausgiebiger befassen und auch die Politik muss da ein bisschen mehr Aufklärungsarbeit leisten.

Ist das nicht eher eine Arbeit, die keine Aufgabe der Politik ist, sondern die die Spieler selbst leisten müssen?

Stober: Es gibt viele, die versuchen, Aufklärungsarbeit zu leisten, wie der VDVC [Verband für Deutschlands Video- und Computerspieler, d. Red.], aber da stößt man schnell gegen Grenzen. Von daher ist diese Aufklärungsarbeit ein kleiner Kampf gegen Windmühlen. Ich hoffe, dass mein Spiel auch dazu beiträgt. Denn alle Vorwürfe, die mir aufgrund dieses Spiels gemacht wurden, kann ich ohne viel Argumentation widerlegen, und zwar mit dem einfachen Satz, dass die Leute das Spiel noch nicht kennen und auch noch nicht gespielt haben. Alle negativen Äußerungen beruhten bisher auf klischeehaften Vorurteilen.

"1378(km)" ist ein so genanntes "Serious Game", ein ernsthaftes Spiel. Was zeichnet diese Spiele aus?

Stober: Bei einem Serious Game wie meinem steht nicht der Spaß im Vordergrund, sondern die Ernsthaftigkeit. 1378(km) macht auf längere Dauer keinen Spaß. Es hat nicht diesen lang anhaltenden Spielspaß wie andere Blockbusterspiele, die der puren Unterhaltung dienen. Ein Serious Game macht es möglich, sich mit spielerischen Mitteln ernsthaften Themen zu widmen. Computerspiele bieten dem Nutzer viel mehr Möglichkeiten als andere Medien, weil man selbst agieren kann. Man ist selbst dazu angehalten, Entscheidungen zu treffen. Es ist wichtig, dass da noch mehr und qualitativ hochwertiger Content kommt.

 

"Bei uns geht es darum, Computerspiele

im gestalterischen oder künstlerischen Kontext zu sehen

beziehungsweise das Medium dazu zu nutzen, Kunst zu produzieren.

 

Wie kann man denn Serious Games einsetzen? Das ist ja nicht unbedingt etwas, was man zu Hause mal eben so eine Runde zockt.

Stober: Es gibt ja schon seit Ewigkeiten Serious Games, von der medizinischen Therapie bis hin zur Kriegsveranschaulichung – America's Army ist zum Beispiel auch ein Serious Game. Das vermittelt amerikanischen und generell Soldaten auf der Welt, wie sie sich zu verhalten haben. Die Grundausbildung, die man dabei absolvieren muss, ist recht langweilig: Man wird vom Ausbilder angeschrien und muss alles immer wieder wiederholen, bis es richtig klappt. Die Streuung von Spielsystemen und wie man sie einsetzen kann ist enorm. Für 1378(km) habe ich das Genre des Egoshooters genommen, weil das bei Jugendlichen das meistgespielte Genre überhaupt ist. Damit kann man sie unbewusst an das Spiel heranlocken, aber trotzdem ernsthafte Themen vermitteln.

Wie viel Überzeugungsarbeit mussten sie selbst leisten, um das Medium Videospiel an der Hochschule anerkannt zu bekommen?

Stober: Die Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe leistet da relativ viel Pionierarbeit, gerade mein betreuender Professor Michael Bielicky, der aus den neuen Medien kommt und jeglichen Versuch, mit neuen Medien Kunst zu produzieren, tatkräftig unterstützt. Wir rücken seit letztem Semester an der Hochschule das Medium Computerspiel in den Vordergrund, auch im Lehrbetrieb. Es ist eigentlich schon höchste Eisenbahn, dass das Medium Computerspiel auch in der Hochschullandschaft weiter etabliert wird. Computerspiele bieten einen Riesenmarkt. Aber bei uns geht es mehr darum, Computerspiele im gestalterischen oder künstlerischen Kontext zu sehen beziehungsweise das Medium dazu zu nutzen, Kunst zu produzieren.

Sind Videospiele Kunst?

Stober: Da könnten wir jetzt lange diskutieren. Sie bieten jedenfalls die Möglichkeit, künstlerisch damit umzugehen. Ob sie dann generell am Ende als Kunst bezeichnet werden können, ist eine andere Frage. Sie bieten in erster Linie die Möglichkeit, sich kreativ mit einem Thema auseinanderzusetzen und künstlerisch Inhalte zu vermitteln.

Ist diese ganze Debatte etwas neues, was es so noch nicht gegeben hat, oder ist der Aufstieg von Videospielen vergleichbar mit anderen neuen Medien der Vergangenheit?

Stober: Sie können es auch mit Comic-Heften vergleichen. Es gab da immer diese Generationenkonflikte, wenn ein neues Medium stärker wird. Wenn man in Betracht zieht, dass die Computerspielindustrie Hollywood schon vor mehreren Jahren beim Umsatz überholt hat und die Kurve immer noch rasant steigt, dann gab es die Akzeptanz auf dem Markt schon vor Jahren. Und natürlich überträgt sich diese Tendenz dann auch langsam in die Gesellschaft. Es ist eigentlich nur eine Frage der Zeit.


Jens M. Stober, 1986 geboren und seit 2007 Student an der HfG Karlsruhe, hat auch das Spiel "FRONTIERS – An der Grenze Europas" mitentwickelt. "Frontiers" basiert auf dem gleichen Spielprinzip wie "1378(km)", nur dass dort Grenzsoldaten Flüchtlinge von der illegalen Einwanderung nach Europa abzuhalten versuchen. "1378(km)" sorgte bei der geplanten Veröffentlichung am 3. Oktober für mediale Aufregung, so dass Stober und die HfG den Start des Spiels auf Dezember verschoben.