"Wenn Bildung und Gerechtigkeit sich küssen"
Gleiche Chancen für alle Kinder - das Thema ist nicht neu. Schon vor 500 Jahren hat sich der Reformator Philipp Melanchthon mit dem Bildungswesen beschäftigt. Alfred Buß, der Präses der Evangelischen kirche von Westfalen, beschrieb am Montag in einem Vortrag in Siegen, was Melanchthons Errungenschaften für die heutige Bildungsdiskussion bedeuten. Hier einige Auszüge:
07.12.2010
Von Alfred Buß

Bildung hat derzeit Konjunktur. Ihr Motor ist vor allem die Erkenntnis, dass eine High-Tech-Nation wie Deutschland im globalen Wettbewerb ihren Vorsprung nur halten kann, wenn ihre Bevölkerung in der Breite eine gute und in der Spitze eine hervorragende Bildung aufweist. Doch was verstehen wir dabei unter Bildung?

Klar ist: Bildung und Arbeitswelt müssen aufeinander bezogen sein. Kein vernünftiger Mensch wird dagegen Einspruch erheben. Wenn jemand die Schule durchläuft und danach nicht qualifiziert ist, einen Ausbildungsplatz zu bekommen, dann stimmt grundsätzlich etwas nicht. Bildung ist nicht brotlose Kunst. Aber Bildung ist andererseits auch mehr „als die Befähigung zum Geldverdienen“ (Johannes Rau).

Zur Bildung braucht man Wissen und Gewissen

Vor sieben Jahren hat die EKD in ihrer Denkschrift „Maße des Menschlichen“ daran erinnert, dass Bildung sich nicht vorrangig an Nützlichkeitskriterien orientieren darf. Bildung muss mehr sein als Ausbildung und berufliche Qualifikation, mehr auch als Lernen und Wissen. (…) „Bildung meint den Zusammenhang von Lernen, Wissen, Können, Wertebewusstsein und Handeln im Horizont sinnstiftender Lebensdeutungen“ heißt es in der Denkschrift.

Einfacher könnte man sagen: Zur Bildung braucht man Wissen, aber auch Gewissen. Bildung braucht Zeit, sie ist nie abgeschlossen. Sie ist immer „eigene Bildung“, hat also immer auch eine existentielle Dimension. Sie führt zu größerer Freiheit und Selbstbestimmung. Doch nie ist man nur für sich selbst gebildet - dann ist man „eingebildet“ - sondern immer auch, um Verantwortung für andere zu übernehmen.

Soziale Herkunft entscheidet über Bildung

Nun fragen wir – gerade in letzter Zeit - zunehmend auch danach, wie Bildung und Gerechtigkeit zusammenkommen. Es ist unübersehbar geworden, dass die soziale Herkunft hierzulande ein entscheidendes Kriterium für Bildungschancen ist. Soziale Herkunft sowie Bildungsnähe oder -ferne der Herkunftsfamilie entscheiden über den Bildungserfolg oder –misserfolg - und nicht die in einem Kind angelegten Gaben und Talente. (…)

Als armutsgefährdet gelten besonders Kinder und Jugendliche, die hierzulande in Haushalten von Alleinerziehenden, in Familien mit Zuwanderungsgeschichte oder in kinderreichen Familien aufwachsen. Arme Kinder lernen früh, dass sie nicht dazugehören, z.B. wenn es um Klassenfahrten, Schulverpflegung, Schwimmbadbesuche, um Kleidung, Hobbys oder Einladungen zu Kindergeburtstagen geht.

(…) Armut ist ein Teufelkreis: schlechte Ernährung, vernachlässigte Gesundheit, miese Wohnverhältnisse, keine Ruhe und keinen rechten Ort für Schularbeiten, bildungsferne Eltern, die weder vorlesen noch bei den Schularbeiten helfen können, keine Anreize, eigenverantwortlich und zielorientiert ein Vorhaben anzupacken und vieles mehr. Dabei sind Kinder aus armen Familien nicht weniger begabt als Kinder aus sozial sichereren Verhältnissen.

20 bis 25 Prozent "funktionale Analphabeten"

Für Kinder aus armen Familien ist der Übergang in die Schule oft ein krasser Bruch mit den bisherigen Erfahrungen. Plötzlich werden Verhaltensweisen gefordert und gefördert, die bisher in ihrem Leben nichts galten - wie einsames Lesen oder verständigungsorientiertes Sprechen. Und sie erfahren, dass ihre Lebenswelt und ihre Lebensart und alles, was dort wichtig ist, negativ herabgestuft wird. Diese Abwertung setzt sich während der gesamten Schullaufbahn fort.

Das Ergebnis: Etwa 20-25% verlassen das Bildungssystem als „funktionale Analphabeten“ ohne die erforderlichen Grundkenntnisse in Rechnen, Schreiben und Lesen. Bildung und Gerechtigkeit küssen sich hierzulande gerade nicht. Bildung und Gerechtigkeit scheinen vielmehr auf zwei ganz unterschiedlichen Sternen zu sitzen und können nicht zueinander kommen.

Was trägt es da aus, in diesem Kontext jemanden ins Spiel zu bringen, der vor 450 Jahren starb, weshalb wir 2010 das Melanchthon-Jahr begehen? (…) Seine Wirkungen für das Schulwesen sind kaum zu überschätzen. Die Reformation gestaltete nicht nur die Kirche neu, sondern war auch ein großer Bildungsaufbruch. Dieser Aufbruch ist ganz entscheidend mit dem Namen des engen Weggefährten Martin Luthers, Philipp Melanchthon, verbunden.

 

"Die Reformation gestaltete nicht nur

die Kirche neu, sondern war auch

ein großer Bildungsaufbruch."

 

Seit der Reformation ist Bildung nach evangelischem Verständnis immer auch Bildung für alle – kein Kind und keinen Jugendlichen dürfen wir als bildungsfern oder nicht-bildungsfähig verloren geben. (…) Bildung und Erziehung müsse jedem Einzelnen seinen Gaben gemäß zuteil werden. Darin waren Reformatoren und Humanisten einig. (…) Bildung sollte einen kulturellen Rahmen für ein friedliches und vernünftiges Zusammenleben schaffen und die Welt im Ganzen menschenwürdig gestalten. Ein gebildetes Gemeinwesen war das gemeinsame Thema.

Bei keinem der Reformatoren trat die Übereinstimmung mit dem Humanismus so deutlich zutage wie bei Melanchthon. Philipp Schwartzerdt kam 1497 - 14 Jahre nach Martin Luther - zur Welt (Foto seiner Büste unten: Hubert Link / dpa) . An seiner Geburtsstadt, dem heute badischen Bretten, waren die Umwälzungen der Zeit noch weitgehend vorbeigegangen. Als kleiner Junge bekam Philipp die Leiden des Krieges zu spüren, mit der der württembergische Herzog Ulrich das kleine Städtchen überzogen hatte. Sein Vater starb an den Folgen dieses Krieges, als Philipp elf Jahre alt war.

Uni-Karriere trotz Sprachfehler

Nichts deutete in der Situation darauf hin, dass dieser etwas schmächtige Knabe - der nie größer als 1,50m werden sollte und zeitlebens an einem leichten Sprachfehler litt - jemals herausragende geschichtliche Bedeutung erlangen sollte. Allerdings wurde dem Knaben nach dem Tod des Vaters eine gute Förderung durch einen entfernten Verwandten zuteil (…). Schon ein Jahr nach seinem Eintritt in die Lateinschule von Pforzheim nahm er als Zwölfjähriger sein Studium an der Universität Heidelberg auf, wo er bereits drei Jahre später den Baccalaureus Artium erwarb.

Wegen seines zu jungen Alters wurde der Fünfzehnjährige in Heidelberg noch nicht zum Magisterstudium zugelassen, so dass er nach Tübingen wechselte. Dort legte er zwei Jahre später das Magisterexamen ab. Hier begann er sich anschließend - im Alter von siebzehn Jahren - in die antiken Autoren einzulesen, selbst Studenten in den Alten Sprachen zu unterrichten und die ersten eigenen Bücher zu veröffentlichen. (…) Nachdem Kurfürst Friedrich der Weise beschlossen hatte, in Wittenberg eine Reformuniversität einzurichten, wurde der Einundzwanzigjährige auf Empfehlung seines Großonkels Reuchlin - übrigens ursprünglich gegen Luthers Willen - 1518 auf die neu errichtete Griechisch-Professur berufen. (…)

Zu große "Manchfeltickeit" des Unterrichtsstoffes

Das Wirken Melanchthons ging jedoch weit über die Universität hinaus. Bei Visitationsreisen erschrak Melanchton über die verbreitete Unwissenheit in den Gemeinden und bei den Priestern: „Wie kann man es verantworten, dass man die Leute bisher in so großer Unwissenheit und Dummheit gelassen hat? Mein Herz blutet, wenn ich diesen Jammer erblicke“, schrieb er 1519. Diese Verhältnisse muss man ins Auge fassen, will man Melanchthons brennendes Interesse an der Schulbildung verstehen. Eine allgemeine Schulpflicht gab es nicht. Zwar existierten neben den mittelalterlichen Kloster- und Domschulen stadteigene und private Schulen in stattlicher Zahl. Die aber waren für viele schwer erreichbar. Und in der Fläche konnten sich alle möglichen Leute als Lehrer betätigen. So hingen die Bildungschancen auch damals von der sozialen Herkunft ab.

In seiner bis heute vorbildlichen didaktischen Weisheit warnte Melanchthon vor zu großer „Manchfeltickeit“ des Unterrichtsstoffes, weil die Schüler durch eine zu große Quantität der Lerngegenstände ebenso überfordert würden wie durch deren große Verschiedenheit (etwas von solcher Weisheit wünschten wir uns heute zum Beispiel bei der Komprimierung der Lehrpläne im verkürzten Durchgang durch die Sekundarstufe I (G 8) an Gymnasien). Die Festlegung der Unterrichtsinhalte verlange eine überlegte und qualitativ hochwertige Auswahl (wir sprechen heute von didaktischer Reduktion) bei gleichzeitiger Berücksichtigung des zusammengehörigen Ganzen der Wissenschaft (wir bemühen uns heute um fächerübergreifenden und -verbindenden Unterricht). (…)

 

"Bildung kann den Menschen nicht erlösen

und lässt Menschen

nicht direkt in den Himmel laufen."

 

Erst in Wittenberg entwickelte sich Melanchthon zum Reformator. Trotz der weitgehenden Übereinstimmung mit den humanistischen Bildungsvorstellungen sah er sich aus theologischen Gründen zunehmend zur Abgrenzung gegen die Humanisten genötigt. Anders als die Humanisten lehrten, führt für Melanchton – trotz aller Hochschätzung - auch Bildung nicht zu ethisch vollkommenem Handeln. Der Mensch kann sich nicht selber gut machen. So wichtig Bildung ist, sie hat Grenzen. Bildung kann den Menschen nicht erlösen und lässt Menschen nicht direkt in den Himmel laufen. Erlöst wird der Mensch nach reformatorischer Einsicht allein aus Gnaden, allein aus Glauben, allein durch Christus - und nicht aus eigener Kraft, also auch nicht durch umfassende Bildung.

Ob nun Luther und Melanchthon in Wittenberg oder Calvin in Genf: Leitbild der Reformatoren ist die mündige Gemeinde. Christenmenschen sollen die Bibel selber lesen und verstehen können und in Glaubensdingen urteilsfähig sein. Die Gemeinde soll in der Verkündigung ihrer Pfarrer das Wort Gottes suchen und es auch finden können. Dazu sollen die Menschen die biblischen Überlieferungen, kirchliche Traditionen und Bekenntnisse kennen. Solche Mündigkeit schafft nach Überzeugung der Reformatoren Freiheit zum Glauben und im Glauben. Mündigkeit schafft Freiheit zum Dienst in der Welt.

Kinder müssen gefördert werden

Aus der so verstandenen Freiheit heraus traten die Reformatoren für ein öffentliches Schul- und Universitätswesen ein. Bildung sollte nicht länger das Privileg Weniger bleiben. Unabhängig von Herkunft und Stand sollten Bildungschancen eröffnet werden. (…) Was bedeuten nun diese Erkenntnisse für unsere Bildungsdebatten heute? (…)

Zu lange war hierzulande das Ende der Bildungsverläufe im Blick. Die Frage hieß: Wie viele machen welchen Abschluss? Inzwischen wird aber immer deutlicher, dass es auf den Anfang ankommt. Die Menschen sind höchst unterschiedlich, von Anfang an. Kinder müssen von Beginn an gezielt gefördert werden, um herkunftsbedingte Abhängigkeiten abzuschwächen.

Schon seit über 30 Jahren illustriert ein Cartoon pointiert bestehende Chancenungleichheit. Da werden der Elefant, der Fisch, der Affe und der Seehund gleichermaßen aufgefordert, auf einen Baum zu klettern. Zum Ziel einer gerechten Auslese klettert alle auf einen Baum - heißt die Bildunterschrift. Aber so wenig der Elefant mittlerweile den Baum erklommen hat, so wenig besucht das durch seine Familiensituation benachteiligte Kind das Gymnasium.

Gleiche Chancen für Skater und Rollstuhlfahrer

Der Cartoonist Hans Traxler hat vor einigen Jahren seinen Klassiker mit den Tieren neu gezeichnet. Da stehen sie nun, wie im richtigen Leben: der Brillenträger mit dem Geigenkasten neben dem Sportfreak, das knöchellang verschleierte Mädchen steht neben der übergewichtigen Couchpotatoe, und neben dem Skater mit der Baseballkappe hockt der Rollstuhlfahrer. Und wiederum: der Chancengleichheit wegen - alle auf einen Baum.

Das deutsche Bildungssystem braucht mehr Gerechtigkeit, daran besteht kein Zweifel. Doch wie ist diese herzustellen? Eine Schulleiterin brachte es auf den Punkt: Gerecht ist nicht, wenn alle Kinder einen Apfel pflücken dürfen, sondern wenn der Zwerg unter ihnen eine Leiter bekommt. Gerechtigkeit im Bildungssystem heißt, solche Leitern bereitzustellen, damit die Chancen, einen Apfel zu erreichen, für alle gleich sind. Wo keine Leitern oder andere geeigneten Fördermittel bereitstehen, gehen Bildungsmöglichkeiten entscheidend verloren.

(…) Das Bild von den Leitern zeigt: Chancengerechtigkeit verlangt nach Befähigungsgerechtigkeit. Jede und jeder muss seinen Gaben und Defiziten gemäss gefördert und befähigt werden – und dies so früh im Leben wie möglich, damit Gerechtigkeit und Bildung sich endlich küssen können. (…)
 


Alfred Buß (63) ist Präses der Evangelischen Kirche von Westfalen.

Den hier in Auszügen veröffentlichten Vortrag hat er am 6. Dezember beim Jahresempfang des Evangelischen Kirchenkreises Siegen gehalten. (Foto: EKvW / Reinhard Elbracht)