Herrnhut in der Oberlausitz – auf den ersten Blick erinnert die Stadtmitte an eine französische Residenzstadt. Geschlossene historische Häuserfassaden, alles läuft sternförmig auf das Zentrum zu, in dem sich allerdings kein Schloss, sondern der große Gebetssaal der Herrnhuter Brüdergemeine befindet: ein rechteckiger Saalbau mit hohen Fenstern und Gardinen, schmucklosen Wänden und weißen Holzbänken.
Statt einer Kanzel steht auf einem Podest ein Tisch mit grüner Tischdecke. Die Schlichtheit des Raumes ist Programm. Das ganze Leben ist hier „Dienst an Gott“, also trifft man sich nicht zu speziellen „Gottesdiensten“, sondern zu „Versammlungen“. Dort betet und singt man gemeinsam. Die Lieder sind thematisch immer eng aufeinander abgestimmt. Singstunde nennen das die Herrnhuter.
Wie hat es der Herrnhutgründer Graf Nikolaus Ludwig von Zinzendorf so treffend formuliert: „Eine Rede ist auch ein Werk in Gott getan, aber es ist weniger als Liturgie halten und seinem Gotte singen.“
Weltberühmtes Hosianna-Singen
Kein Wunder also, dass Herrnhutkantor Peter Kubath viel zu tun hat. Gerade jetzt in der Vorweihnachtszeit heißt es üben, üben, üben – mit den drei Kinderchören, dem Jugend- und dem Erwachsenenchor. Als Kubath 2000 nach seinem Studium in Halle das Angebot der Gemeinde erhielt, zögerte er nicht. Wo sonst, fragt er, stehe die Musik so im Mittelpunkt des Gemeindelebens? Schon während seines Studiums waren die Herrnhuter Thema. Das Hosianna-Singen sei nun mal berühmt.
Das Hosianna-Singen – für Maria Elisabeth Winter kann es ein Weihnachten „ohne“ nicht geben. Schon als Kind hat sich die 52-Jährige jedes Jahr darauf gefreut. Heute sitzt sie am 1. Advent unten in der Gemeinde und ist glücklich, wenn der feierliche und doch fröhliche Wechselgesang zwischen Kirchenchor und Kindern beginnt. Mittlerweile ist das alte, im Jahr 1765 komponierte Ritual so beliebt, dass der Kantor immer eine Wiederholung einbaut. Dann übernimmt die Gemeinde den Part der Kinder.
Maria Elisabeth Winter ist Mitglied im Ältestenrat der Gemeinde. Ihr Leben ist eng mit den Herrnhutern verbunden. Schon die Eltern und Großeltern waren Gemeindemitglieder, nie hat sie in ihrem Glauben geschwankt. Auch nicht, als man ihr in der DDR-Zeit den Zugang zur Oberschule verweigerte. Die Brüdergemeine war nicht verboten, doch man machte ihren Mitgliedern das Leben so schwer wie möglich.
Zum Beispiel, indem man direkt gegenüber vom historischen Kirchensaal einen Schulneubau hochzog, in klassisch- sozialistischer Plattenbauweise. Das historische Zentrum von Herrnhut war am letzten Kriegstag von sowjetischen Soldaten in Brand gesteckt worden. Ein sinnloser Gewaltakt, über den die Herrnhuter jahrzehntelang aus politischen Gründen nicht reden durften. Den Gebetssaal konnte die Gemeinde in den Jahren 1951 bis heute – auch dank der Stiftung KiBa – wieder aufbauen, doch das einst geschlossene Ensemble drum herum war für immer verloren.
Ideologischer Riss durch die Stadt
Die Straße zwischen dem barocken Kirchensaal und den Schulpavillons war nicht nur optisch ein Bruch. Hier verlief auch ideologisch ein Riss durch die Stadt. 1800 Menschen wohnten damals in Herrnhut, 500 gehörten zur Brüdergemeine, die sich mühsam gegen die staatlichen Repressalien behauptete. Heute beherbergt der Plattenbau das zur Brüder-Unität gehörende Zinzendorf-Gymnasium. 2005 wurde die Schule gegründet, jeder Jahrgang ist vertreten, der Andrang ist groß.
Von einer stetig steigenden Nachfrage kann auch Gästepfarrerin Erdmute Frank berichten. Mehrere Jahre lang hat sie mit ihrem Mann in den USA gelebt, nun führt sie seit knapp einem Jahr Besucher aus aller Welt durch die Gemeinde – im Schnitt sind es 30 Gäste täglich. Zusammen besichtigt man den Gebetssaal und die sorgfältig gestaltete Unitäts-Ausstellung. Wer mag, kann mit ihr auch zum „Gottesacker“ spazieren. Der Friedhof der Gemeinde liegt traumhaft schön auf einem Hügel am Ortsrand. Von oben kann der Blick weit in die Oberlausitz hinausschweifen.
850.000 Mitglieder der Brüdergemeine - ohne "d"
Weltweit bekennen sich heute an die 850 000 Menschen zur „Moravian Church“, so der international gebräuchliche Name der Herrnhuter Brüdergemeine – auch heute noch schreibt sie sich ohne „d“. Während die Zahl der Auslandsgemeinden und ihrer Mitglieder, vor allem in Afrika, stetig wächst, sinkt sie in Deutschland. Thomas Przyluski betreut die Öffentlichkeitsarbeit der Unität und spricht von einem schwierigen Umwandlungsprozess infolge sinkender Gemeindebeiträge. Hier geht es den Brüdern und Schwestern in Herrnhut nicht anders als so vielen anderen Gemeinden im Land.
Das Büro von Thomas Przyluski liegt im historischen Vogtshof. Dort befindet sich auch der legendäre Saal, in dem seit knapp 100 Jahren die „Herrnhuter Losungen“ im Rahmen einer feierlichen Veranstaltung „ausgelost“ werden. Dabei werden kleine Zettel mit Zahlen per Zufallsprinzip aus einer historischen Silberschale gezogen. Diese Zahlen verweisen auf Bibelstellen im Alten Testament. Ergänzt werden sie durch passende Auszüge aus dem Neuen Testament und einem Liedtext.
Die Ursprünge des Losungsrituals gehen zurück auf Ludwig von Zinzendorf (hier im Bild) höchstpersönlich. Am 3. Mai 1728 soll er seinen Mitstreitern in Herrnhut zum ersten Mal einen Bibelspruch für den kommenden Tag mit auf den Weg gegeben haben. Mittlerweile erscheinen die Losungen in 54 Sprachen und werden in mehr als 100 Ländern gelesen. Wer nicht täglich blättern möchte, kann sie als Mail oder SMS abonnieren. Erfolgreich ist auch die seit 2009 erscheinende Jugendausgabe.
Herrnhuter Sterne aus Röntgenpapier
Und was ist nun mit den Sternen? Natürlich hängen sie jetzt zur Vorweihnachtszeit in fast jedem Haushalt der Stadt. Die mittlerweile nicht mehr so kleine Fabrik (gerade wurde ein Neubau mit Besucherzentrum eingeweiht) gehört seit der Wende wieder zum Geschäftsbereich der Brüder-Unität und sorgt für ein kleines finanzielles Polster. Wie die Sterne einst in den Schulen der Brüdergemeine erfunden, wie sie in Internaten und in vielen Familien gebastelt wurden und wie sie seit der Wende einen kleinen Siegeszug durch die Welt antraten – das ist eine Geschichte aus Herrnhut, die hier nicht in Gänze erzählt werden kann.
Aber so viel dann doch: Zu DDR-Zeiten gingen fast alle Sterne in den Export, sie waren für DDR-Bürger kaum zu haben. Als Maria Elisabeth Winter und ihr Mann damals ihr Haus ausbauten, bestand ihre „Währung“, um die Handwerker zu bezahlen, in selbst gebastelten Sternen. Weil es normales Papier nicht gab, wurden die Sterne aus dem so schön durchsichtigen und dunkelgelben Röntgenpapier aus dem Stadt-Krankenhaus gefertigt. Dort galt es als Abfall, für die Sternebastler war es die Rettung.
Der Text von Dorothea Heintze ist erstmals erschienen in KiBa aktuell 4/2010, dem Newsletter der Stiftung zur Bewahrung kirchlicher Baudenkmäler in Deutschland (Stiftung KiBa).