Filmtipp der Woche: "Nowhere Boy"
Die Frühgeschichte eines begnadeten Songschreibers: "Nowhere Boy", das Regiedebüt von Sam Taylor-Wood, porträtiert die Pop-Ikone John Lennon in seiner Zeit vor den Beatles.
07.12.2010
Von Sascha Westphal

Das Ende ist ein Aufbruch, und dazu ertönen zum ersten Mal auch John Lennons und Paul McCartneys eigene Stimmen. Auf diesen Moment, in dem Lennons "Mother" auf der Tonspur einsetzt, läuft alles hinaus. Schließlich erzählt die Fotografin und Videokünstlerin Sam Taylor-Wood in ihrem Spielfilmdebüt vordergründig einfach die Geschichte hinter diesem berühmten Song. Die Traumata der Kindheit und Jugend müssen nur erst einmal durchgestanden sein – dann bilden sie das Material, aus dem der Künstler auf ewig schöpfen kann.

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Damit orientiert sich das Drehbuch von Matthew Greenhalgh an einem psychologisch simpel gestrickten Muster, dem unzählige Musiker- und Künstlerfilme der letzten Jahre folgten. Dieser einfachen Struktur zu entkommen, gelingt Sam Taylor-Wood nur stellenweise. Aber letztlich wollte sie das wohl auch gar nicht. Offene Rebellion war noch nie Taylor-Woods Sache. Schon ihre Foto- und Videoarbeiten, mit denen sie seit Mitte der 90er Jahre für Aufsehen in der Kunstszene gesorgt hat, suchten den Dialog, nicht den Bruch mit dem Vergangenen.

Zuletzt erklingt zwar "Mother" – aber die direkten Linien, die von John Lennons Jugend hin zur Pop-Ikone führen, streift Taylor-Wood nur am Rande. Natürlich erzählt sie von dem Moment, in dem der junge, von Elvis berauschte Lennon (Aaron Johnson) beschließt, Rockstar zu werden, und zusammen mit einigen seiner Freunde und Mitschüler die Skiffle-Band The Quarrymen gründet. Und auch die ersten Begegnungen mit Paul McCartney und George Harrison dürfen selbstverständlich nicht fehlen. Trotzdem spielen Lennons frühe Schritte als Musiker in "Nowhere Boy" höchstens die zweite Gitarre. Im Vordergrund steht das überaus komplexe Beziehungsgeflecht, in dem er, seine Mutter Julia (Anne-Marie Duff) und deren ältere Schwester Mimi (Kristin Scott Thomas) sich heillos verfangen haben.

Momente einer anti-bürgerlichen Utopie

So wie Taylor-Wood den aufmüpfigen, sich selbst für ein Genie haltenden Jugendlichen, seine unstete Mutter, die ihn verließ, als er fünf war, und seine emotional sehr distanzierte Tante, die sich seither um ihn gekümmert hat, in Szene setzt, trägt ihr gemeinsames Verhältnis ganz deutlich die Züge einer Dreiecksbeziehung. Wenn Julia und John ausgelassen über den Pier von Blackpool laufen, wenn sie in einem Fish 'n' Chips-Restaurant mit ihm spielerisch flirtet oder sich auf einer Couch eng an ihn schmiegt, schwingt sogar ein leicht inzestuöser Unterton mit.

Nur geht es Taylor-Wood dabei keineswegs um skandalöse Enthüllungen, sondern um einen Ausdruck der Freiheit. Diese Szenen sind in ein geradezu magisches Licht getaucht und stoßen für Momente die Türen zu einer anti-bürgerlichen Utopie auf. Was auf den ersten Blick inzestuös wirkt, ist in Wahrheit ein Hauch der Unschuld und Unbekümmertheit, nach der sich neben Julia auch Mimi und John verzehren. Aber nur die unkonventionelle Mutter kann sie tatsächlich für Augenblicke leben. Dafür muss sie in ihren schwarzen Stunden einen hohen Preis zahlen.

Dem 17-jährigen John Lennon bleibt schließlich nur die Flucht auf die Liverpooler Kunsthochschule und in eine eigene Wohnung. Jede der beiden grundverschiedenen Schwestern wirft einen enormen Schatten, aus dem er sich kaum lösen kann. So ähnlich ergeht es beinahe auch dem Darsteller Aaron Johnson. Kristin Scott Thomas und Marie-Ann Duff entfachen ein derartiges Feuerwerk der Haltungen und Emotionen, dass er sich nur mit Mühe behaupten kann. Aber dafür schenkt ihm Sam Taylor-Wood einige kleine Szenen alleine, in denen er regelrecht aufblüht. So wird aus dem Porträt des Künstlers als junger Mann schließlich ein ganz eigenständiges Kunstwerk, das nicht nur John Lennon, sondern auch das Liverpool der 50er Jahre in einem ganz neuen Licht erstrahlen lässt.

Großbritannien 2009. Regie: Sam Taylor-Wood. Buch: Matt Greenhalgh. Mit: Aaron Johnson, Kristin Scott Thomas, Anne-Marie Duff, David Threlfall, Josh Bolt, Sam Bell. L: 98 Min. FSK: 12 ff.

epd