Am 19. Juli 2010 morgens um 5 standen die Macher der Kulturhauptstadt selig und mit Bierflaschen in der Hand auf einer Essener Autobahnbrücke. Nach einem Wochenende A40-Sperrung für das Kulturhauptstadt-Straßenfest "Still-Leben" fuhren im Morgengrauen wieder die ersten Autos. Drei Millionen Besucher, Lob aus allen Richtungen - das war der Höhepunkt. Eine Woche später kam bei der Loveparade in Duisburg die Katastrophe. Die Gesamtbilanz des Festjahres, das Mitte Dezember offiziell zu Ende geht, fällt trotzdem positiv aus.
Massentauglichkeit und Spitzenkultur
Die Kulturhauptstadt im Ruhrgebiet hat den mutigen Plan bestätigt, erstmals eine ganze Region mit 53 sonst oft zerstrittenen Kommunen gemeinsam antreten zu lassen. Theater und Museen stimmten ihre Konzepte ab und einigten sich auf einen Homer-Theaterzyklus im ganzen Revier, die Konzerthäuser und Festivals an der Ruhr setzten gemeinsam auf den renommierten Komponisten Hans Werner Henze, der eigens für die Kulturhauptstadt eine Oper komponierte.
Zehn Kommunen entlang des Rhein-Herne-Kanals organisierten einen "Kulturkanal" mit spektakulären Inszenierungen am Ufer. Die Städte entlang der A40 kooperierten zum Beispiel im Nahverkehr so eng miteinander wie nie zuvor. Normalerweise endet manche Buslinie im 5,4-Millionen-Einwohner-Ballungsraum an irgendwelchen Stadtgrenzen und die Spurbreite der Straßenbahn wechselt zwischen Bochum und Dortmund wie sonst auf der Fahrt nach Russland.
Revierweites Singen und Schlangestehen bei der Impressionistenschau, Gasballons über alten Zechen und moderne Kunst in der Ex-Brauerei, Märchenfestival und mittelalterliche Kirchenmusik - das Festival pendelte mit 300 Projekten und über 5000 Veranstaltungen erfolgreich zwischen Massentauglichkeit und Spitzenkultur. Eine Kulturhauptstadt für alle und nicht nur die Bildungsbürger sollte es werden - am Ende steht ein Besucherrekord von über zehn Millionen Menschen, die Loveparade nicht mitgerechnet.
Hoffnung auf dauerhafte Effekte
Besonders stark war die Kulturhauptstadt da, wo sie auf die Stimme der einzelnen Städte setzte. Unter dem Motto "Local hero" bekam jede Ruhrkommune für eine Woche die große Bühne. Beispiel Oberhausen, die ärmste Stadt des Ruhrgebiets. Fast 40.000 Menschen besuchten die Industriestadt in ihrer Festwoche, hunderte Oberhausener machten im Kulturhauptstadtjahr erstmals bei Projekten selbst mit. Viele werden auch nach 2010 weiter dabei sein, glaubt der Oberhausener Kulturbürochef Volker Buchloh - dringend nötige Hilfe in einer Stadt, die außer ihrem Theater fast nichts Kulturelles mehr finanzieren kann.
Den Spannungsbogen eines Kulturfestes über ein ganzes Jahr zu halten, wäre ohnehin schwer gewesen. Durch die Loveparade-Katastrophe mit 21 Toten Ende Juli wurde es praktisch unmöglich. Nach der Tragödie brach die Kulturhauptstadt-Begeisterung in der Region für Wochen erst mal komplett zusammen. Ruhr.2010-Chef Fritz Pleitgen wurde sogar angezeigt. Danach musste die Kulturhauptstadt mühsam wieder Tritt fassen. "Eine zweite Welle in Gang zu bringen fiel schwer, der erste Enthusiasmus war weg", sagt ein Mitorganisator.
Bei den Touristen von außerhalb - auch aus dem Ausland - zog das Geschäft dagegen in der zweiten Jahreshälfte erst richtig an. Nach den Sommerferien, die viele am Strand verbringen, kamen massenhaft die Städtereisenden ins Revier. Insgesamt erhöhten sich die Gästezahlen von Januar bis September um 13,4 Prozent, Essen verzeichnete sogar rund 30 Prozent mehr Gäste. Auch hier gibt es Hoffnung auf dauerhafte Effekte. "Viele Besucher haben uns jetzt kennengelernt und wollen wieder kommen", sagt ein Ruhrtourismus- Sprecher.
Ruhr.2010-Abschlussfest am 18. Dezember
Städtebaulich hat die Kulturhauptstadt dem jahrzehntelang vernachlässigten Ruhrgebiet ein beachtliches Erneuerungsprogramm gebracht. Endlich wurden überfällige Bahnhofsrenovierungen etwa in Essen und Dortmund angegangen, es gab bedeutende Museumsbauten in Dortmund, Hagen, Duisburg und Essen. Die Region bekam fünf große Besucherzentren für ihre Touristen. All das summiert sich auf mehrere hundert Millionen.
Vielleicht noch wichtiger ist das neue Bild in der Öffentlichkeit: Dass an der Ruhr die Wäsche beim Trocknen auf der Leine schwarz wird, glauben nach tausenden von Filmbeiträgen und Artikeln über das heutige Ruhrgebiet nur noch ganz Unbelehrbare. "Das Ruhrgebiet hat sich Respekt verschafft", resümiert Pleitgen.
Zum Abschluss wagt die Kulturhauptstadt deshalb noch einmal eine große Geste: Auf den elfgeschossigen Turm der ehemaligen Gelsenkirchener Zeche Nordstern setzen die Bauherrn ein Videokunstzentrum mit vier Ebenen. Ganz oben drauf kommt eine 18 Meter hohe Herkules-Statue des Düsseldorfer Bildhauers Markus Lüpertz, die beim Ruhr.2010-Abschlussfest am 18. Dezember feierlich enthüllt wird.