"Politik ist ohne menschlichen Faktor nicht denkbar"
In Hamburg trennt sich die schwarz-grüne Koalition, weil die Koalitionspartner nach dem Rücktritt von Ole von Beust nicht mehr miteinander können. Wikileaks veröffentlicht Diplomaten-Berichte, die sich auf die Persönlichkeit von Gesprächspartnern konzentrieren. Da fragt sich mancher: Kann man das nicht auf Sachfragen reduzieren? Sind die persönlichen Dinge denn so wichtig? Sind sie, sagt Lobbyismus-Forscher Rudolf Speth. Aber man muss darauf achten, dass sie nicht zu wichtig werden: Die Balance muss stimmen.
01.12.2010
Von Rudolf Speth

Politik wird von Menschen gemacht: Die politische und gesellschaftliche Ordnung ist das Ergebnis von Entscheidungen, die Menschen getroffen haben. Diese Einsicht ist das beruhigende Ergebnis historischer Aufklärung und sie floss ein in das Handeln von Emanzipations- und Kritikbewegungen. Denn immer wieder versuchen Machthaber politische Ordnungen anders zu legitimieren: durch göttlichen Auftrag, als Ergebnis der Vernunft oder als geschichtsphilosophisch verbrämte, unvermeidliche Entwicklung. Politik ist aber ohne den menschlichen Faktor nicht denkbar.

Sie ist aber auch nicht allein auf persönliche Beziehungen reduzierbar. Ähnlich argumentierte Karl Marx in seiner Schrift "Der 18. Brumaire des Luis Bonaparte": "Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen."

Die vorgefundenen und überlieferten Umstände von Marx sind heute die Verfahren und Institutionen, in und mit denen Politik gemacht wird. Der große Traum des Sozialismus war eine herrschaftsfreie Gesellschaft mit einer Verwaltung, in der die persönlichen Beziehungen keine Rolle mehr spielen würden. Politik würde sich dann erübrigen. Das war ein Tagtraum.

Ohne das persönliche Element funktioniert Politik nicht

Auch heute glauben viele Menschen, dass es vor allem auf intelligente Verfahren und eine flexible institutionelle Ordnung ankommt. Politik würde sich dann anonym und regelkonform mit Unterstützung von Experten vollziehen. Die Wissenschaft ist bemüht, neue Institutionen zu designen und neue Verfahren zu finden, um mit den komplexen Problemen beispielsweise der internationalen Finanzmarktordnung oder der Monopolbildung auf den Energiemärkten zurechtzukommen. Hier helfen persönliche Beziehungen nicht weiter. Auch die verbindliche Auslegung des Grundgesetzes können wir nicht einfach persönlichen Beziehungen überlassen, sondern wählen Richter nach Maßgabe eines bestimmten Verfahrens.

Doch ohne das persönliche Element funktioniert Politik letztlich nicht. Auch wenn wir bei der Bundestagswahl die Hälfte der Abgeordneten über Landeslisten wählen, so ist es doch wichtig, dass es die direkte Wahl über einen Wahlkreiskandidaten gibt. Wir möchten nicht nur wissen, wie unser Land regiert wird, sondern auch von wem.

Personen wird Vertrauen, aber auch Misstrauen entgegengebracht. Personen stehen für Emotionen, und sie können komplizierte Dinge symbolisieren. Ohne persönliche Beziehungen würden die formalen Verfahren nicht funktionieren, und das Gehäuse der Institutionen austrocknen. Je formeller Politik wird, desto notwendiger wird die informelle Dimension. Hier liegt aber zugleich die größte Gefahr, dass Politik in den informellen Bereich auswandert.

Abseits der Öffentlichkeit zählt, wer wen kennt

In der Korruption wird diese Gefahr sichtbar. Menschen verschaffen sich über die Kanäle persönlicher Beziehungen Vorteile auf Kosten von Dritten. Auch im Bereich der Interessenpolitik lauert die Gefahr der Reduzierung von Politik auf persönliche Beziehungen. Dann zählt nur noch, wer wen kennt und zu wem man Zugang hat. Dies geschieht dann in der Regel abseits der Öffentlichkeit. In verschwiegenen Runden und mit Hilfe persönlicher Netzwerke wird der eigene Vorteil gesucht.

Die Mediengesellschaft offenbart eine weitere Dimension. Die Medien reduzieren Politik gerne auf das Wirken von Personen. Personen produzieren Bilder, sie liefern Stories und sie transportieren Emotionen. Gerade die Boulevardmedien lieben "human-touch"-Geschichten. Journalisten und Politiker tauschen sich in Hintergrundrunden aus, ohne dass die Öffentlichkeit davon erfährt. Politiker suchen die Nähe zu den Medien, weil ihnen Medienberichte Aufmerksamkeit verschaffen.

Weil diese und andere Gefahren bestehen und Politik ohne persönliche Beziehungen nicht denkbar ist, kommt es auf eine kluge Mischung an: die formelle Dimension der Politik (Verfahren, Institutionen) muss umsichtig mit der informellen Dimension austariert sein.


Dr. Rudolf Speth ist Politologe und Sozialwissenschaftler und zählt zu seinen Arbeitsschwerpunkten Lobbying, politische Kommunikation und bürgerschaftliches Engagement. Er lebt in Berlin.