Für US-Diplomaten war die Papstwahl ein "Schock"
Die jüngst von der Website "Wikileaks" veröffentlichten US-Geheimdokumente enthalten auch Einschätzungen zur Wahl von Joseph Ratzinger zum Papst Benedikt XVI. vor fünf Jahren. Die Entscheidung für den Deutschen im Konklave sei eine "Überraschung für viele", ja ein "Schock" gewesen. Die Zahl der den Vatikan betreffenden Wikileaks-Dokumente liegt den Berichten zufolge bei 18. Auszüge daraus druckte am Montag die italienische Tageszeitung "La Stampa" ab.

Dem Bericht zufolge rechneten die Diplomaten nach dem Tod von Papst Johannes Paul II. am ehesten mit der Wahl eines Lateinamerikaners zum Nachfolger, "angesichts der hohen Zahl der Katholiken dort". Schärfster Konkurrent Ratzingers im Konklave war der argentinische Kardinal Jorge Mario Bergoglio. Er soll nach unbestätigten Berichten im dritten Wahlgang rund ein Drittel der Stimmen auf sich gezogen haben; danach rief Bergoglio aber zur Wahl Ratzingers auf, der in der vierten Runde mit großer Mehrheit zum Papst bestimmt wurde.

Nach Einschätzung der Informationen für das US-Außenministerium werde der bisher "mächtige Kardinal" Ratzinger von den Medien "wie ein autokratischer Despot" beschrieben. Im direkten Gespräch hingegen sei er "überraschend demütig, spirituell und angenehm". Das Pontifikat werde im Zeichen der Kontinuität stehen und europäisch geprägt sein, so die Geheimpapiere weiter.

"Achse Rom-Köln"

Von einer möglichen neuen "Achse Rom-Köln" spricht ein als geheim eingestufter Bericht der US-Botschaft in Berlin nach der Papstwahl. Im deutschen Klerus herrsche "Skepsis, ob die Wahl Ratzingers der deutschen Kirche auf lange Sicht etwas bringt". Der Kölner Kardinal Joachim Meisner gilt als enger Vertrauter von Benedikt XVI. Ein "einflussreicher Jesuit" habe den Diplomaten in einem Hintergrundgespräch gesagt, Ratzingers konservative Züge müßten nicht unbedingt bestimmend für seine Amtsführung als Papst werden. Benedikt XVI. könne durchaus "zu den reformerischen Positionen seiner Anfänge zurückkehren".

Radio Vatikan berichtet darüber hinaus über eine von Wikileaks veröffentlichten siebenseitigen Geheimanalyse der US-Regierung vom 12. Mai 2005, rund drei Wochen nach der Wahl Ratzingers zum Papst. "In Zeiten der Krise flüchtet sich die Kirche in ihre europäische Identität", heißt es darin. Der neue Papst kenne die Probleme der Weltkirche sehr gut. Er sei ein Gegner eines türkischen Beitritts zur EU und werde sich "kämpferisch gegen den Säkularismus in den USA und anderen Nationen des Westens engagieren".

Wikileaks hatte am Sonntag mit der Veröffentlichung von insgesamt 251.287 Berichten an das US-Außenministerium begonnen. Dabei äußern die Verfasser zum Teil sehr undiplomatische Ansichten über Politiker aus aller Welt. Bundeskanzlerin Angela Merkel wird als "selten kreativ" beschrieben, Außenminister Guido Westerwelle als "aggressiv" und "eitel". Den iranischen Präsidenten Ahmadinedschad setzen die Diplomaten mit Hitler gleich, Russlands Premier Putin gilt als "Alpha-Rüde" und der französische Staatspräsident Sarkozy als "Kaiser ohne Kleider".

evangelisch.de 

Auszüge aus den US-Berichten zur Wahl Benedikts XVI.

Dokument vom 14. April 2005

"Wahl des neuen Papstes" nennt sich ein siebenseitiges Dokument, das am 14. April 2005 von der amerikanischen Botschaft beim Vatikan an Außenministerin Condoleezza Rice ging. Darin wurde ein "Identikit" des Mannes gezeichnet, der nach Meinung der US-Diplomaten den Thron Petri besteigen würde. Laut ihrer Einschätzung sei der "wichtigste Faktor das Alter". Die Kardinäle würden jemanden suchen, "der weder zu jung noch zu alt ist, denn sie wollen nicht bald ein weiteres Begräbnis und ein weiteres Konklave". Sie wollten aber auch kein langes Pontifikat wie das von Johannes Pauls II. Ein weiteres Element seien ausgeprägte Sprachkenntnisse und vor allem müsse der neue Papst Italienisch können, die "Sprache der vatikanischen Bürokratie". Für die amerikanischen Diplomaten sei jedoch die geographische Herkunft entscheidend. "Nach einem Polen ist vorhersehbar, daß es kein Kardinal aus Osteuropa" sein werde. "Auch keiner der elf Kardinäle der USA, weil die letzte verbliebene Supermacht." Es werde auch kein Franzose sein, weil man in Erinnerung habe, "wie die französischen Päpste des 14. Jahrhunderts durch die französischen Könige beeinflusst" gewesen seien. Wegen der "beachtlichen Anzahl der Katholiken" könnte ein Kandidat aus Mittel- und Südamerika einen "beachtlichen Vorteil" haben. "Er wird seesorgliche Erfahrung haben müssen, um seine menschlichen Qualitäten zu beweisen", "internationale Erfahrung, um die wichtigsten Fragen unserer Zeit angehen zu können" und "ein guter Kommunikator sein, geschickt im Umgang mit den neuen elektronischen Medien, um die Botschaft der Kirche auf klare und mächtige Art und Weise zu verbreiten."

Dokument vom 19. April 2005

Am 19. April 2005, dem Tag, an dem Kardinal Ratzinger zum Papst gewählt wurde, gesteht ein Telegramm von Rom nach Washington ein, daß die Einschätzungen und die Vorhersage falsch waren. "Erst gestern sprach Poloff [ein politischer Offizier an der US-Botschaft] mit einer Quelle [der Name ist geschwärzt], der über eine Wahl Ratzingers witzelte." - "Als wir Brown sagen, nachdem der neue Papst am Balkon erschien, war der Amerikaner unter Schock und sagte uns, sprachlos zu sein." Abschließend heißt es: "Trotz der Spekulationen in den Medien über die Unterstützung für Ratzinger durch viele Kardinäle, war seine Wahl für viele eine Überraschung." Der neue Papst wird jedoch als "starker Kardinal" bezeichnet mit dem Ruf der "Wächter der theologischen Orthodoxie" zu sein. "Obwohl ihn die Medien als autokratischen Despoten beschreiben", zeichnen die Diplomaten ein ganz anderes Bild des Papstes: Er sei "überraschend bescheiden, verinnerlicht und umgänglich". Die Einschätzung des neuen Pontifex: "Er wird die Linie fortsetzen." - "Sein Augenmerk wird auf Europa liegen".

Dokument vom 29. April 2005

Über die Folgen der Wahl schreibt ein Mitarbeiter der US-Botschaft in Berlin namens Cloud unter dem Titel: "Achse Rom-Köln? Deutschland und Benedikt XVI.". Inhalt des Berichts ist, wie "Deutschland und der deutsche Katholizismus die Wahl Benedikts XVI. mit einer Mischung aus Stolz, Vorbehalt und Skepsis" aufgenommen hätten. Um letzteren Aspekt zu verdeutlichen, zitiert der Bericht "einen einflussreichen deutschen Jesuiten, der uns sagte, daß der Konservativismus Ratzingers sich nicht als Hauptcharakteristikum des Pontifikats erweisen könnte und die Hoffnung aussprach, dass er zu den ursprünglichen Reformpositionen zurückkehren möge". Weiter heißt es: "“Im deutschen Klerus herrscht Skepsis darüber, daß die Wahl Ratzingers für die deutsche Kirche langfristig Vorteile bringt." Dies beweise, "was uns ein Mitarbeiter der Bischofskonferenz sagte", wonach "die Jungen, die heute konservativer seien als ihre Eltern, einerseits interessiert an der Kritik des neuen Papstes gegen die herrschende soziale Ordnung seien", andererseits aber "nur schwer eine Moralvorstellung teilen können, die ihre individuelle Freiheit, die sie genießen, einschränkt". Der Bericht zieht den Schluss: "Es steht fest, daß die deutsche katholische Kirche, von der Ratzinger seit mehr als 20 Jahren abwesend ist, während dieses Pontifikats weder eine Bevorzugung noch eine besondere Rolle spielen wird". Die Gründe dafür seien "frühere Konflikte" und die "Sorge, dass Rom versuchen könnte, einen stärkeren Einfluß in Deutschland geltend zu machen". Zur Bestätigung "erinnern einige führende Laien wie Ratzinger nach 1990 versuchte, die Eingliederung eines Priesterseminars” aus der DDR-Zeit "in die Universität Erfurt zu verhindern, überzeugt, dass die finanziellen, politischen und institutionellen Bindungen zwischen Kirche und Staat in Deutschland die Unabhängigkeit und moralische Autorität der Kirche schwäche."

Quelle: La Stampa / Übersetzung: www.katholisches.info