Drei Erlebnisberichte deutscher Journalisten aus den USA, Großbritannien und Spanien.
New York: Die Erinnerung bleibt wach
Der Atem stockt einem nicht mehr so oft zuvor. Aber wenn, dann so heftig wie seit ehedem. Das sind dann die Momente, die sich später, wenn sich Herzschlag und Atemfrequenz wieder normalisiert haben, so anfühlen, als hätte einem jemand eine alte, längst verheilt geglaubte Wunde wieder aufgerissen.
Und das in einer Stadt, die das Trauma des 11. September unerwartet schnell abschüttelte und sich nach einem kurzen Knick wieder zur capital of the world, zur Welthauptstadt aufschwang: größere und noch teuere Penthäuser, fahrradfreundlich und sicher vor Kriminalität wie nie zuvor, der öffentliche Konsum von Fett und Nikotin gebannt, ein rekordverdächtiger Touristenandrang, Rezession hin oder her. In dieser Saubermann-Idylle spielte die Erinnerung an "9/11" nur noch als Jahrestag eine Rolle. Zumindest nach außen.
Die Innenwelten der New Yorker sehen anders aus, und sie brechen sich in Momenten Bahn, die sie "diese 9/11-Momente" nennen. Diese gewissen Augenblicke können in dem ebenso langweiligen wie hektischen Alltag der Millionenmetropole unerwartet einschlagen wie ein Blitz. Und sie sind fast immer banal. So wie das Knallen eines defekten Lkw-Auspuffs, der die eh schon hohe Dezibelzahl der hupenden gelben Taxis übertönt. Man hält dann kurz inne, während die aufgeschreckten Tauben auffliegen, vergewissert sich, oft mit einem Blick nach oben auf die Hochhäuser, dass keine Gefahr droht, und hastet weiter, während die Schrecksekunde noch im Herzschlag nachwirkt.
Oder man richtet an einem Herbstmorgen aus irgendeinem Grund zerstreut den Blick auf den stechend blauen Himmel und denkt an das sonnendurchflutete Firmament, das damals im Abstand weniger Minuten zwei Flugzeuge wie Messer durchschnitten: eine banale Schrecksekunde. Oder man zuckt zusammen, wenn in einer alten Woody-Allen-Komödie die Kamera an den Türmen des World Trade Centers vorbeistreift. Oder wenn die vollgepferchte U-Bahn in der Rushhour wieder mal abrupt und für mehrere Minuten steckenbleibt. Dann verstummt die Unterhaltung. Die Angst fährt mit, sie ist am 11. September 2001 hängengeblieben, lässt sich höchstens kurz wegscheuchen.
Für jeden New Yorker sind die Anschläge zu einer Art Anker im inneren und äußeren Koordinatensystem geworden. Das fängt mit der Zeitrechnung "before 9/11" und "after 9/11" an und setzt sich in der Person Michael Bloomberg fort. Der derzeitige New Yorker Bürgermeister, der jeden Tag in den Medien zu sehen ist, spielt auf merkwürdige Art den Nachlassverwalter dieser Stimmung. Bloomberg wirkt wie ein Buchhalter, fleißig und undramatisch. Ein Manager. Die Aufgeregtheit, die sein Vorgänger Giuliani repräsentierte, ist der Normalität des Alltags à la Bloomberg gewichen. Und trotzdem gibt es diese gewissen Momente.
Der wichtigste Wandel hat sich in den Köpfen vollzogen. Die New Yorker haben sich zwar ihren Pragmatismus bewahrt, sind aber nicht mehr so unbeschwert wie früher. Das Gefühl der Sicherheit machte einer dumpfen Bedrohung Platz, trotz aller demonstrativen Polizeipräsenz. Zwar lauert keineswegs an jeder Ecke ein Terrorist - wer dies behauptete, würde sich bei den coolen New Yorkern lächerlich machen. Und nicht jeder New Yorker hat Albträume von einstürzenden Hochhäusern und in den Tod springender Menschen. Aber Angst und Paranoia sind feste Größen in einer Stadt, in der Hunderttausende die Hilfe von Psychologen brauchen, um den normalen Stress des Großstadtalltags zu verarbeiten - was in New York nicht erst seit 2001 so ist. Aber 9/11 kam als unverarbeiteter Stressfaktor dazu, schwingt deshalb bei Vielen im Unterbewusstsein mit, auch wenn sie es sich nicht eingestehen, und kommt immer wieder an die Oberfläche.
Max Böhnel lebt seit zwölf Jahren in New York und arbeitet dort als freier Journalist für deutschsprachige Medien. Den 11. September 2001 verbrachte er auf der Suche nach seiner Frau und seinem zweijährigen Sohn, die damals in Manhattan unterwegs waren. Er fand sie tags darauf unversehrt im Stadtteil Brooklyn wieder.
London: Ruhig bleiben und weitermachen
Schon im Jahr 1939 hatte ein britischer Staatsdiener die Idee zu dem einfachen, aber wirkungsvollen Spruch: "Keep calm and carry on" (Bleiben Sie ruhig und machen Sie weiter). Der Spruch wurde zur Stärkung der Moral während des Zweiten Weltkriegs auf Plakate gedruckt und ist auch heute noch populär. Souvenirläden in London stehen voll von Utensilien mit dem Aufdruck des alten Plakats, das nicht ohne Augenzwinkern auf Tassen, Geschirrhandtücher und Unterwäsche gedruckt wird. Der Spruch fasst bis heute gut zusammen, wie die Briten mit Bedrohungslagen umgehen: Sie lassen sich einfach nicht aus der Ruhe bringen, auch nicht nach den Anschlägen auf Londons öffentliche Verkehrsmittel am 7. Juli 2005.
Das spiegeln auch die Statistiken wider: Drei Viertel der Londoner (76 Prozent) fühlen sich auf den Straßen der Stadt sicher. Das ergab eine Studie, die von den Gemeinden der Stadt London im Frühjahr 2010 in Auftrag gegeben wurde. Als Hauptgrund, warum sich die Londoner manchmal nicht sicher fühlen, gaben die Menschen die Angst vor einem Einbruch an.
Ex-MTV-Moderatorin Kristiane Backer lebt seit Anfang der 90er-Jahre in London. 1995 ist sie zum Islam konvertiert. "Für mich als weiße Muslimin, die kein Kopftuch trägt, hat sich London nach den Anschlägen überhaupt nicht verändert." Aber für Menschen mit dunkler Hautfarbe oder Frauen mit Kopftuch habe sich der Alltag schon verändert, glaubt sie.
Tatsächlich werden laut Statistik überproportional viele schwarze und asiatisch aussehende Menschen von der Polizei angehalten und durchsucht. Dabei berufen sich die Polizisten nicht selten auf die Anti-Terror-Gesetzgebung. Kristiane Backer fühlt sich in London aber sicher. "Wir Muslime glauben, dass unser Leben in Gottes Hand liegt."
Ähnlich gelassen sieht es auch Vanessa James. "Ich denke nicht an die Terrorgefahr, wenn ich von A nach B fahre", sagt sie. Die 57-Jährige ist IT-Managerin und viel in London unterwegs. Die Leute seien zwar umsichtig, achteten auf herrenlose Pakete, aber das sei auch schon zu Zeiten der IRA so gewesen, sagt die Londonerin. "Wenn wir aufhören, in London die U-Bahn und den Bus zu nehmen, weil wir Angst haben, dann haben die Terroristen doch gewonnen."
Sie habe mehr Angst davor, von Schlägern überfallen zu werden als vor einem Bombenanschlag. Da ist Vanessa James nicht die Einzige, die so denkt. Auf Platz 2 der Angst-Statistik der Stadt rangiert die Angst, überfallen zu werden.
"London hat sich nach den Anschlägen nicht verändert", sagt auch Jo Church. Die 36-Jährige achtet auf herrenlose Gepäckstücke, hat auch schon einmal eines gemeldet und war beeindruckt, wie professionell die Mitarbeiter von Londons U-Bahn damit umgingen. "Letztendlich ist es in London doch wahrscheinlicher, von einem Bus überfahren zu werden als darin in die Luft zu fliegen", sagt sie.
"Ich mag die öffentlichen Verkehrsmittel nicht gerne, das war aber auch schon vor den Anschlägen so." Vanessa James und Jo Church sich einig, dass London auch künftig mit der Gefahr leben muss. Vanessa James ist sogar überzeugt, dass es wieder Anschläge geben wird: "Aber London hat das immer überstanden", sagt sie.
Christiane Link ist in Mainz geboren und arbeitet in London als Herausgeberin der deutschsprachigen Zeitung "The German Link". Daneben betreibt sie ihr Blog mit dem Titel "Behindertenparkplatz".
Madrid: Scharfe Kontrollen - aber keine Panik
Wenn Isabel Herrero morgens aus dem Haus geht, sind für sie die Nachrichten aus Deutschland über Terrorgefahren weit weg. Vor ihr liegt eine Stunde in überfüllten U- und S-Bahnen Madrids bis zum Arbeitsplatz - auf der gleichen Strecke, auf der islamistische Fanatiker am 11. März 2004 191 Menschen mit Rucksackbomben umbrachten. Die 48-Jährige Angestellte hatte an diesem Morgen Glück: Sie ging zehn Minuten früher aus dem Haus als üblich und hatte den Umsteigebahnhof Atocha schon verlassen, als die Bomben dort explodierten. Die Angst fährt trotzdem schon lange nicht mehr mit.
Madrid hat sich erstaunlich schnell von den Anschlägen erholt. Die Züge fuhren schon am nächsten Tag wieder, und es dauerte auch nur wenige Tage, bis sie wieder so voll waren wie gewohnt. Blickten die Pendler anfangs noch misstrauisch nach Fahrgästen, die ihre Taschen unter dem Sitz deponierten, weichen sie ihren Blick deswegen schon lange nicht mehr von der Zeitung. Bei den Fiestas im Sommer nach den Anschlägen war die Lust der Stadt nach Feiern und Leben so spürbar wie noch nie.
"Dem Terror die Stirn bieten", lautete damals die Divise der meisten Pendler. Die Spanier gingen schon zuvor auch mit dem Terror der ETA recht gelassen um. Als die baskische Organisation einmal an den Stränden der Mittelmeerküste Sprengsätze vergrub, änderte kaum jemand die Pläne für den regelmäßigen Urlaub am Meer. Routinen zu ändern, wäre ein Triumph für die Terroristen, sagten darum auch viele, die unmittelbar nach den Anschlägen vom 11. März wieder in die Züge stiegen.
Dabei hat sich durchaus einiges geändert in Spanien. Bei Fernreisen mit der Bahn wird das Gepäck heute durchleuchtet, Reisende müssen einen Metalldetektor passieren. Wegen der Sicherheitsmaßnahmen, die man sonst nur vom Flughafen kennt, müssen sie zudem rechtzeitig vor der Abfahrt am Bahnhof sein.
In letzter Sekunde zum abfahrbereiten Zug zu hechten, ist bei Fernreisen nicht mehr möglich, so wie es auch keine Abschiedszenen auf dem Bahnsteig mehr gibt. Ohne Fahrkarte kommt man nicht mehr an den Zug, die Fahrkartenkontrolle findet in einem Boardbereich der Bahnhöfe statt. So etwas sind die Spanier schon lange gewohnt. Selbst in Büchereien ist es üblich, dass Taschen durchleuchtet werden.
Ein Untersuchungsausschuss des spanischen Parlaments deckte nach den Anschlägen vom 11. März vor allem Schlampereien bei den Sicherheitsbehörden auf, forderte jedoch keine Strafrechtsverschärfungen oder weitere Kompetenzen für Polizei und Geheimdienste. Gesetzesverschärfungen hielten die Parlamentarier für unnötig.
Allerdings steht die spanische Antiterrorgesetzgebung schon heute in der Kritik. Bei Terrorverdächtigen erlauben die Gesetze eine 13-tägige "Isolationshaft". Verhaftete haben in dieser Zeit kein Recht auf einen Anwalt oder den Arzt ihres Vertrauens. Angezeigte Folterungen seien unter diesen Bedingungen nicht von unabhängigen Gutachtern zu überprüfen, kritisiert auch Amnesty International.
Dabei ist die Gefahr nicht zu unterschätzen. El Kaida bezeichnet Spanien immer wieder als vorrangiges Ziel von Anschlägen, mehrere Versuche konnten seit 2004 verhindert werden. "Al Andalus" sei islamisches Territorium, das es zurückzuerobern gelte, heißt es immer wieder in den Erklärungen des Terrornetzwerks. Gefahr sehen die spanischen Experten vor allem von durch die Organisation "El Kaida im Maghreb", die in der Sahelzone operiert und von den dortigen Staaten kaum zu kontrollieren ist.
Doch trotz der Bedrohung gibt es hierzulande keine Debatte um islamische Einwanderer, vermeintliche Integrationsschwierigkeiten und auch keine besonders ausgeprägte Ablehnung des Islam. Als Grund vermuten die zwei Millionen in Spanien lebenden Muslime auch hier die Erfahrungen mit der ETA. Der aus Marokko stammende Mohammed Haidur, erinnerungspolitischer Sprecher der Gewerkschaft Arbeiterkommissionen, bringt es so auf den Punkt: "Die Spanier können gut zwischen der ETA und den Basken unterscheiden. Warum sollen sie dann nicht zwischen Muslimen und Terroristen unterscheiden können?"
Hans-Günter Kellner lebt und arbeitet als Korrespondent und freier Journalist in Madrid.