PID: Mehr Hilfe für das bereits geborene Leben!
Präimplantationsdiganostik - PID - ist das Stichwort für eine Debatte in Deutschland, die noch lange nicht vorbei ist. Wie sollen wir mit der medizinisch-technischen Möglichkeit umgehen, genetische Merkmale von befruchteten Eizellen bei einer künstlichen Befruchtung bereits vor der Einsetzung in den Mutterleib erkennen zu können? Ein Kommentar von Jutta Flatters, Mutter eines behinderten Kindes, zu einer Gesellschaft, in der die PID als christlicher Wert bezeichnet und zugleich die sozialen Bedingungen für Kranke und Behinderte nicht besser werden.
26.11.2010
Von Jutta Flatters

Kürzlich hat der CDU-Parteitag ein knappes Votum gegen die Zulassung von PID in Deutschland abgegeben. Die der Abstimmung vorausgehende Debatte zeigt das moralisches Dilemma, das hier, ähnlich wie bei der Pränataluntersuchung (PND), besteht: einerseits die Menschenwürde und den unbedingten Schutz von allen Menschen, auch von Behinderung und Krankheit bedrohten Menschen, festzuschreiben und gleichzeitig existentielle Notlagen anzuerkennen und gerecht zu werden. Pro und Contra PID hängt dann wie bei der PND von der Gewichtung ab bzw. von Perspektiven, die mal mehr das individuelle Schicksal, mal mehr den sozialen Aspekt (zum Beispiel gesellschaftliche Auswirkungen, Solidarität mit Kranken und Behinderten) in den Vordergrund stellen. Repräsentativ dafür sind die hier zuvor veröffentlichten Beiträge von Peter Hintze (Pro) und Bischof Friedrich (Contra).

In die anhaltende politische Debatte möchte ich einige Aspekte einbringen, die mir bisher nicht oder nur andeutungsweise begegnet sind: Aspekte, die das gesellschaftliche Umfeld beleuchten, in dem das Leiden von Paaren an Kinderlosigkeit sowie ihre Angst vor einem von Krankheit oder Behinderung bedrohten Kind besteht und wahrgenommen wird.

Die Ängste und Sorgen kann auch die PID nicht nehmen

Den Kinderwunsch und die Bereitschaft, dafür sehr viel in Kauf zu nehmen, kann man als ganz natürlich ansehen. Aber dieser Wunsch hat auch eine Geschichte. Ich erinnere nur an die noch nicht lange zurückliegende Demographiedebatte oder auch an die lange Tradition kirchlicher Lehren, welche die Erfüllung der Weiblichkeit in der Mutterschaft und den Zweck der Ehe in der Fortpflanzung sehen.
Gleichzeitig leben wir in einer Gesellschaft, in der es immer noch schwierig, aber gerade für Frauen notwendiger denn je ist, Beruf und Familie zu vereinbaren. Diese Schwierigkeit wächst mit einem von Krankheit oder gar von schwerer Behinderung betroffenen Kind in einem kaum noch zu bewältigenden Maße. Die "großen Sorgen und Ängste von Eltern, die mit der Möglichkeit umgehen müssen, ein krankes, ein behindertes Kind zu bekommen" (Friedrich) sind also durchaus berechtigt. Hier wäre christliche und soziale Verantwortung gefragt, dem schon geborenen Leben Rahmenbedingungen zu ermöglichen, die solchen Ängsten und Sorgen begegnen.

Allerdings: Dies verlangt viel komplexere Problemlösungsmaßnahmen als die vielzitierte Leidminderung mittels eines überschaubaren medizintechnischen Verfahrens wie der PID. Soziologinnen zufolge ist das ein Grund, warum gerade dieses Leiden von Paaren, die sich ein gesundes Kind wünschen, so ernst genommen wird, während andere Betroffene vergeblich auf Leidminderung warten, Familien mit behinderten Kindern zum Beispiel, die keine ausreichende Unterstützung erhalten. Der Umgang mit individuellem Leid folge einer gesellschaftlichen Logik. Was auf die politische Agenda komme, entscheide sich nicht an individuellen Bedürfnissen, sondern kulturellen Werten, Normen und Einflussmöglichkeiten. Gewiss: In diesem Fall hat der BGH eine klare gesetzliche Regelung verlangt; aber deshalb sind solche Überlegungen trotzdem sinnvoll.

Frühzeitige Erkennung von Krankheiten und Behinderungen sind Verheißungen, die von Gentechnologie und Biomedizin ausgehen und Hoffnungen wecken, manches menschliche Leid verhindern zu können. Die Tatsache, dass wir es dabei mit einem boomenden Wirschaftszweig zu tun haben, der Forschungsmöglichkeiten bietet, Arbeitsplätze schafft und bedeutende Umsätze erzielt, macht es der Politik nicht eben leichter, mit solch verführerischen Verheißungen umzugehen. Wo sollen die Grenzen gezogen werden? Was darf manipuliert und selektiert werden, nach welchen Kriterien (Leistungsfähigkeit?), mit welchen Folgen (vom Versicherungsrecht bis hin zum sozialen Klima) und wer entscheidet all das? Fragen, die bekanntermaßen schwer zu beantworten sind, denen aber insbesondere die Befürworter nicht ausweichen können.

Unser Menschenbild ist von der Leistungsgesellschaft geprägt

Ich gehe davon aus, dass die Angst, ein von Krankheit oder Behinderung bedrohtes Kind zu bekommen, ihren Ursprung in der Regel nicht im Wissen um die reale Situation von Menschen mit Behinderung hat, sondern buchstäblich grund-legender Natur ist: Abschreckend wirkt, wie Behinderung und auch Krankheit in unserer Gesellschaft wahrgenommen werden, nämlich als Leiden und nur als Leiden und damit als völlig unvereinbar mit einem guten und normalen Leben, wie wir es uns alle wünschen. Dass unsere Vorstellungen von dem, was ein gutes, normales Leben ausmacht, sich wiederum an den Erfordernissen unserer hochkomplexen Leistungsgesellschaft orientieren, nicht also oder wenig nur am christlichen Menschenbild, ist uns meistens nicht bewusst, findet aber einhellige Bestätigung in der Fachliteratur.

Was wir sehen, ist, dass viele Menschen diesen Erfordernissen nicht gerecht werden (können) und deshalb marginalisiert werden, darunter auch (aber nicht nur) Menschen mit Behinderungen. Was wir meist nicht wahrnehmen, ist, dass das Leben dieser Menschen oft "anders ist als man denkt", nämlich ein auf seine Weise reiches, gutes und intensives Leben, voller Tiefen und Höhen, Schwierigkeiten und Möglichkeiten, Leidens- und Glückserfahrungen, aber auch ein Leben, das den Unwägbarkeiten des menschlichen Lebens nicht ausweichen, sie auch nicht ausblenden kann – so wie wir es in unserer Gesellschaft normalerweise gerne tun, bis es uns, unausweichlich, früher oder später, selber trifft.

Auch die Schwachen prägen das soziale Klima im Land

Trotzdem bleibt wahr: So sehr auch Eltern ihre Kinder mit Behinderung lieben und nicht mehr missen möchten, das Leben mit ihnen ist schwierig. Da gibt es nichts zu beschönigen. Moralischer Rigorismus hilft hier kaum weiter. Um verantwortliches Abwägen kommt in der Tat kein Entscheidungsträger, keine Entscheidungsträgerin herum: Politikerinnen und Politiker nicht und auch die betroffenen Paare nicht. Hier ist es wichtig im Auge zu behalten: Die öffentlichen Debatten sowie andere politische Maßnahmen, die zunächst nichts mit der anstehenden Entscheidung zu tun zu haben scheinen, prägen auch Bewusstsein und beeinflussen individuelle Entscheidungen – und umgekehrt: Viele individuelle Entscheidungen gegen ein von Krankheit oder Behinderung bedrohtes Kind werden Auswirkungen haben auf das soziale Klima in unserem Land.

Solche Zusammenhänge gilt es im Auge zu behalten und entsprechende Politik zu machen – unabhängig davon, wie jetzt entschieden wird. Es ist wenig glaubwürdig, wenn Politikerinnen und Politiker der PID-Debatte als Verteidiger christlicher Grundwerte auftreten und gleichzeitig Verschärfungen im Gesundheits- und Sozialsystem mittragen, die vor allem die Menschen treffen, die auf praktische Solidarität angewiesen sind. Als Mutter einer schwerbehinderten Tochter wünsche ich mir hier ein konsequenteres Argumentieren und Handeln: Politische Entscheidungen für eine Gesellschaft, in der das Leben für Behinderte und mit Behinderten nicht ständig schwerer wird, sondern leichter. Erst dann verlieren Verfahren wie die PID für die einen ihre Attraktivität und für die anderen ihr Bedrohungspotential.


Jutta Flatters ist katholische Theologin, Mutter eines schwer mehrfach behinderten Kindes und Autorin des Buches "Anders als man denkt. Leben mit einem behinderten Kind".