"Zu Frau Strauß habe ich Vertrauen", sagt Michael Reißmann, "und zum jeweiligen Pater auch". Der Profilgemeinde in Charlottenburg ist überkonfessionell, die Besucher sind evangelisch, katholisch oder orthodox, neben Pfarrerin Dorothea Strauß ist ein Franziskanerpater für die Besucher da. Michael Reißmann hat lange gesucht, bis er hier ein Zuhause gefunden hat.
Er ließ sich in der DDR als Erwachsener evangelisch taufen, konvertierte später zum Katholizismus, wird gerade Mitglied einer franziskanischen Gemeinschaft und ist ehrenamtlicher Mitarbeiter bei Kirche posithiv. Eine seiner Aufgaben: Gottesdienste vorbereiten und hinterher aufräumen. "Ich wüsste nicht, was ich täte, wenn ich das nicht hätte", sagt Michael Reißmann. Aus gesundheitlichen Gründen kann der 54-jährige nicht Vollzeit arbeiten – in seiner vielen Freizeit aber auch nicht stillsitzen.
"Aids haben immer die anderen"
So geht es vielen Aids-Infizierten, weiß Pfarrerin Strauß. "Heute leben sie besser und länger als früher, denn es gibt neue Medikamente. Viele müssen aber lange mit wenig Geld leben und können nicht arbeiten." Dadurch hat sich Strauß' Arbeit als Pfarrerin der Profilgemeinde verändert: Am Anfang hatte sie viel mit Sterbebegleitung und Beerdigungen zu tun. Heute brauchen die Menschen oft seelsorgliche Begleitung mitten im Leben – und zwar teilweise anonym. Die Treffen finden an neutralen Orten statt, zum Beispiel in einem Café, aber nicht in der Kirche. "Manche verstehen mich als ihre Pfarrerin, obwohl ich sie gar nicht kenne. Sie kommen nicht zum Gottesdienst, weil sie nicht erkannt werden wollen, und reden auch im Beruf nicht über ihre Infektion."
Ob jemand HIV-positiv ist, sieht man ihm dank der Behandlung mit Medikamenten heute nicht unbedingt an. Daher weiß die Pfarrerin nicht unbedingt, wer die 60 bis 70 Menschen sind, die in ihre monatlichen Gottesdienste kommen. Aidskranke? Schwule und Lesben? Heterosexuelle? Gesunde? Die Pfarrerin will es gar nicht wissen, sie mag nicht sortieren. Dass ihre christlichen Freunde damals an Aids starben, stieß in ihrer Kirche auf großes Unverständnis, erzählt sie. "Aids haben immer die anderen. Das gilt auch heute noch. Die Kirche wendet sich anderen zu, und man kommt nicht auf die Idee, das in der Kirche Menschen mit Aids infiziert sind."
"Erstaunt, dass man von der Kanzel über Aids sprach"
Diese Erfahrung hat auch Michael Reißmann gemacht. Als er 1993 nach seinem positiven HIV-Test im Krankenhaus lag, kam ein katholischer Seelsorger an sein Bett. "Der meinte, die Krankheit sei eine Strafe Gottes!" empört sich Reißmann. Nicht viel emphatischer reagierte sein damaliger evangelischer Gemeindepfarrer: "Der hatte keine Zeit, musste sich angeblich um die alten Leute kümmern. Dann war für mich Kirche erstmal gestorben". Durch einen Flyer der Berliner Aidshilfe wurde er auf Kirche posithiv aufmerksam, ging in den Gottesdienst zum Welt-Aids-Tag 1994 war "ganz erstaunt, dass man da von der Kanzel über Aids sprach".
"Wichtig ist, dass die Menschen sich hier nicht vereinzelt fühlen", erklärt Pfarrerin Strauß. "Eine Mutter mit aidskrankem Sohn findet hier vielleicht eine andere Mutter mit aidskrankem Sohn". Dasselbe Prinzip gilt für Lesben und Schwule, die in der Profilgemeinde Menschen treffen, die genauso fühlen wie sie selbst. "Ich denke, dass viele, die in unsere Kirche kommen, auch woanders in den Gottesdienst gehen", sagt Strauß, "aber bei uns finden sie einander."
In den 17 Jahren, die es Kirche posithiv jetzt gibt, haben sich Freundschaften entwickelt. "Wir tauschen uns untereinander aus, wie jeder mit den Medikamenten zurecht kommt", erzählt Michael Reißmann, "und wenn einer krank ist, fragen wir, ob er Hilfe braucht". Manchmal erinnern die Treffen ein wenig an eine Selbsthilfegruppe. Doch für Michael Reißmann ist vor allem die Spiritualität wichtig: Er möchte die Gemeinschaft der Gottesdienste, die Gebetstreffen, Bibelabende und Ausflüge in verschiedene Klöster nicht missen. "Wir sind schon ein ziemlich frommer Haufen", sagt Reißmann lächelnd.
Abendmahl immer mit Gemeinschaftskelch
Auch die Pfarrerin legt großen Wert auf die Pflege der Gemeinschaft. Zu jedem Gottesdienst bei Kirche posithiv gehört eine Abendmahls- oder Eucharistiefeier, "und zwar mit Gemeinschaftskelch!". Das ist der Pfarrerin besonders wichtig, gerade weil das gemeinsame Trinken aus einem Kelch zusammen mit HIV-positiven Menschen früher mit Angst besetzt war. "Meine Gottesdienstbesucher wollen den Gemeinschaftskelch, und das ist auch theologisch richtig so", ist Dorothea Strauß überzeugt.
An diesem Symbol wird ihre Grundhaltung deutlich: "Die Kirche hat Aids", sagt sie provokativ. Als Beleg zitiert sie zwei Verse aus dem ersten Korintherbrief: "Und wenn ein Glied leidet, so leiden alle Glieder mit, und wenn ein Glied geehrt wird, so freuen sich alle Glieder mit. Ihr aber seid der Leib Christi und jeder von euch ein Glied." Das kann durchaus als Appell an die Kirche verstanden werden: Sie sollte nicht HIV-positive Menschen ausschließen und als "die anderen" betrachten. Sondern als Teil ihrer selbst.