TV-Tipp: "Tatort: Wie einst Lilly" (ARD)
Zum vierzigjährigen Bestehen der Reihe zeigt die ARD einen außergewöhnlichen "Tatort" mit einem höchst untypischen Ermittler: Ulrich Tukur brilliert als LKA-Ermittler Felix Murot.
26.11.2010
Von Tilmann P. Gangloff

"Tatort: Wie einst Lilly", 28. November, 20.15 Uhr im Ersten

Eigentlich ist er nur ein Lückenbüßer, bis das neue "Tatort"-Team des Hessischen Rundfunks seinen Dienst antritt; aber Ulrich Tukur macht seine Sache als Stellvertreter so gut, dass man ihm unbedingt weitere Fälle wünscht. Seine Qualität verdankt dieser Film, mit dem die ARD das vierzigjährige Bestehen der Reihe feiert, aber vor allem dem Drehbuch. Innerhalb weniger Wochen beweist Grimme-Preisträger Christian Jeltsch nach "Kreutzer kommt" und "Rosannas Tochter" zum dritten Mal sein herausragendes Talent.

Die besondere Faszination seiner Geschichte beruht auf der geschickten Verquickung aus Gegenwart und Vergangenheit, aus persönlichem Schicksal und jüngerer Zeitgeschichte: Hauptfigur Felix Murot, mittlerweile beim LKA, war Ende der Achtziger als Ermittler des BKA mit der Aufklärung eines RAF-Attentats betraut. Die Terroristen hatten einen Wirtschaftsführer ermordet. Murot war das immer komisch vorgekommen, denn der Industrielle wollte die Arbeitnehmer am Gewinn beteiligen. Weil der Beamte damals die falschen Fragen gestellt hat, ist er von dem Fall abgezogen worden. Als sich auf dem nordhessischen Edersee ein Mann erschießt, wird der Ermittler gleich doppelt von der Vergangenheit eingeholt: Murot ist hier, in "Hessisch Sibirien", aufgewachsen; und die Pistole stammt aus dem Umfeld der RAF. Der Tote, ein Sensationsreporter, hat früher mit den Terroristen sympathisiert und war angeblich einer heißen Story auf der Spur.

Die Geschichte ist originell und großartig erzählt (Regie: Achim von Borries), aber es ist Ulrich Tukur, der die Hauptfigur und damit den Film zum Leben erweckt; selbst wenn der Schauspieler von einem ausgefeilten Rollenentwurf profitiert. Gleich zu Beginn des Films wird in Murots Kopf ein haselnussgroßer Tumor entdeckt, eine Diagnose, die Anagrammliebhaber allerdings nicht weiter überrascht. Weil Murot in einer Pensionswirtin (Martina Gedeck) seine alte Jugendliebe Lilly sieht, setzt er sich irgendwann ans Klavier und spielt "Lili Marleen". Und durch die Begegnungen mit alten Bekannten lassen sich zudem ganz elegant biografische Besonderheiten einstreuen.

Außerdem hat Jeltsch diverse Nebenfiguren ersonnen, die nicht nur der Handlung, sondern auch Murot zusätzliche Komplexität verleihen. Die undurchsichtigste Rolle spielt dabei der frühere Vizechef des BKA (Vadim Glowna). Er will offenbar um jeden Preis verhindern, dass bestimmte Details öffentlich bekannt werden; Parallelen zu den jüngsten Erkenntnissen im Fall Verena Becker sind unverkennbar. Die schönste Rolle aber hat Barbara Philipp als Murots Assistentin Magda Wächter, die ihrem Namen gleichfalls alle Ehre macht und mindestens freundschaftlich über ihren Chef wacht, was sie jedoch gut hinter einer rauen, aber herzlichen Schale zu verbergen weiß. Von ihr stammt auch der Rat, den sich der Ermittler zu Herzen nimmt, um nicht ständig über die Haselnuss in seinem Kopf nachdenken zu müssen: "Arbeit ist die beste Medizin." Wunderbar wie immer ist auch Martin Brambach als örtlicher Polizist, dem der "Lackaffe" vom LKA gehörig auf die Nerven geht.

Die ganz eigene und eigenartige Stimmung verdankt der Film aber vielen verblüffenden Momenten: Als Murot einen Blick auf den Toten wirft, sieht er sich selbst; und als er der vermeintlich trauernden Witwe die Todesnachricht überbringt, lacht die ihm ins Gesicht und ruft ihren Mann zur Wohnungstür. Gut, dass die Dreharbeiten für den nächsten Krimi mit Felix Murot schon fest terminiert sind.


Der Autor unserer TV-Tipps, Tilmann P. Gangloff, setzt sich seit über 20 Jahren als freiberuflicher Medienkritiker unter anderem für "epd medien" und verschiedene Tageszeitungen mit dem Fernsehen auseinander. Gangloff (geb. 1959) ist Diplom-Journalist, Rheinländer, Vater von drei Kindern und lebt am Bodensee. Er gehört seit Beginn der 1990er Jahre regelmäßig der Jury für den Adolf-Grimme-Preis an und ist ständiges Mitglied der Jury Kinderprogramme beim Robert-Geisendörfer-Preis, dem Medienpreis der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD).