Seelsorge für Polizisten: "Denkt nicht, ihr seid verrückt!"
Endloser Einsatz in Gorleben. Schreckliche Szenen bei der Loveparade. Gewalt auf der Stuttgart-21-Demo. Die Belastung der Polizisten in Deutschland steigt. Das beklagt die Gewerkschaft der Polizei – und Dietrich Bredt-Dehnen bestätigt es. Er ist Pfarrer und leitet ein Team von sechs Polizeiseelsorgern bei der Evangelischen Kirche im Rheinland.
24.11.2010
Die Fragen stellte Anne Kampf

evangelisch.de: Herr Bredt-Dehnen, in welcher Form betreuen Sie Polizistinnen und Polizisten?

Dietrich Bredt-Dehnen: Wir besuchen die Polizisten auf ihren Wachen und Dienststellen, wir begleiten sie bei ihren Einsätzen, auch bei Großeinsätzen wie zum Beispiel in Gorleben, bei der Loveparade und Demonstrationen. Aber wir bieten auch Beratung bei persönlichen Problemen. Berufliche Stresssituationen sorgen manchmal dafür, dass es in den Familien knallt, dann wissen die Polizisten, dass sie einen Seelsorger haben, mit dem sie über solche Sachen sprechen können, ohne dass das sofort weiter gegeben wird. Wir haben Zeugnisverweigerungsrecht, Beichtgeheimnis und Schweigepflicht, das ist schon etwas Besonderes. Wir sind also mitten in der Polizei dabei, aber trotzdem außerhalb davor, und dadurch haben wir die Möglichkeit, mit den Menschen sehr vertraut zu sprechen. Das ist schon ein sehr großer Vertrauensvorschuss, den wir dadurch haben.

Falls Polizisten Gesprächsbedarf haben: Um welche dienstlichen Probleme geht es dann zum Beispiel?

Bredt-Dehnen: Im Dienst geht es um sehr belastende Erlebnisse, die sie hatten, zum Beispiel ein tödlich verlaufender Verkehrsunfall mit einem Kind. Die Beamten, die den Unfall aufnehmen, wissen ja erstmal überhaupt nicht, was da los ist. Sie bekommen nur über Funk gesagt: 'Fahrt mal da hin, es gibt einen Unfall mit Verletzten', und dann ziehen sie ein totes Kind aus dem Auto. Das ist für viele eine extreme Belastung. Da kommen Fragen auf, die im Nachhinein nochmal angesprochen werden: Wie kann man das überhaupt verarbeiten, so ein Schockerlebnis?

Das war ein Beispiel aus einem belastenden Einsatz im Berufsalltag. Wie geht es Polizisten nach Extrem-Einsätzen wie in Gorleben, bei Stuttgart 21 oder der Loveparade?

Bredt-Dehnen: Es gibt ein klares Vorgehen. Manche Polizisten machen in diesen großen Einsätzen schwere traumatische Erfahrungen - wie zum Beispiel bei der Loveparade, wo sie mitten aus der Feier heraus in so einen Einsatz kommen und auf einmal Tote aus Menschenbergen herausziehen müssen und selber in Gefahr sind. Es haben viele in dem Tunnel so erleben müssen. Zehn Meter hinter ihnen feiern die Leute, kriegen das gar nicht mit und beschimpfen die Polizisten noch, dass sie Spaßbremsen wären – da muss man sehr schnell danach handeln.

Die Menschen, die das erleben, werden in der Regel sofort rausgeholt aus dem Einsatz und in einen Bereich gebracht, wo sie akustisch und visuell möglichst nichts mehr mitbekommen. Da haben sie Gelegenheit, sofort darüber zu reden. Wenn das nicht passiert und eine Nacht dazwischen liegt, in der die Träume kommen – das verliert sich überhaupt nicht mehr. So ein Entlastungsgespräch direkt danach ist superwichtig.

Die Gewerkschaft der Polizei hat gesagt, dass es zu wenig Vorbereitung auf Terroreinsätze gibt. Sehen Sie das auch so?

Bredt-Dehnen: Ich weiß nicht genau, worauf sich die Gewerkschaft der Polizei bezieht. Wenn sich das auf die technische Bereitschaft, auf die Einsatzmittel bezieht, dazu können wir als Seelsorger natürlich nichts sagen…

Gehen wir mal davon aus, dass es sich auch auf die psychologische Vorbereitung beziehen könnte…

Bredt-Dehnen: … genau! Daran arbeitet die Führung der Polizei im Moment sehr. Uns ist völlig klar: Wenn wir starke Traumatisierungen durch solche Einsatze verhindern wollen, müssen wir pro-aktiv arbeiten und die Menschen auch schon darauf vorbereiten, dass so etwas passieren kann. Wir vermitteln das Wissen, was in solchen Situationen mit der menschlichen Seele passiert. Damit man einfach Klarheit darüber hat, woher diese Bilder kommen, wo man mit den Bildern hingeht, was man für Möglichkeiten hat, das zu bewältigen. Es gibt ja auch körperliche Symptome, die einen völlig verunsichern nach so einer traumatisierenden Erfahrung. In den Gesprächen und Seminaren sagen wir den Polizisten: 'Leute, wenn ihr jetzt nach Hause geht, denkt nicht, ihr seid verrückt oder krank, wenn ihr jetzt auf einmal Wahnsinnsbauchschmerzen oder Kopfschmerzen oder einen Heulanfall kriegt. Das ist einfach völlig normal'.

Laut Gewerkschaft der Polizei nimmt die Gewalt gegen Polizisten zu. Ist das auch ein Thema in Ihren Gesprächen mit Polizisten?

Bredt-Dehnen: Das ist ein ganz starkes Thema. Wir bieten immer wieder Seminare zu 'Gewalt gegen Polizisten' an. Die Erfahrung ist, dass diese Gewalt unkalkulierbar geworden ist. Früher war klar, wenn man in ein bestimmtes Viertel geht: Da könnten Schlägertypen sein, und man war vorbereitet. Heute ist Gewalt nicht mehr so eingrenzbar. Manche erzählen, dass sie einen Einsatz bei einem Familienstreit hatten: Sie gehen rein und klären die Situation, bis alles ruhig ist, und beim Rausgehen kriegt der Kollege von der Frau noch richtig einen übergebraten. Das sind Erlebnisse, mit denen man nicht rechnet. Viele erzählen, dass die Schwelle zur Gewaltanwendung gesunken ist, und zwar durch alle Gesellschaftsschichten hindurch. Das erleben sie als demütigend, und es ist sehr schwer im Alltag zu verarbeiten. Das begleitet viele über Jahre.

Wie wirkt sich die Belastung aus bei den Polizisten über die Jahre aus? Gibt es mehr Krankheiten wie Burn Out?

Bredt-Dehnen: Es ist in einzelnen Abteilungen ganz sicher so, dass die Belastung angewachsen ist. Das liegt auch an der Bürokratie. Viele Polizisten sind unglaublich viel mit Verwaltung beschäftigt und müssen Berichte ohne Ende schreiben, weil sie sich auch absichern müssen. Dann sitzt man manchmal nach einem Einsatz länger an den Sachen, die zu schreiben sind, als an dem Einsatz selber. Und dann macht man die Erfahrung, dass es versickert. Der Bericht wird gar nicht gelesen - das Gefühl haben sie zumindest. Ein Gefühl von Vergeblichkeit. Das bringt manche dazu, zu sagen: Ich kann nicht mehr. Wir hatten gerade eine bundesweite Konferenz, auf der das ein wichtiges Thema war: Wie kann innerhalb der Führungsebenen der Polizei diese Wertschätzung bewusst wahrgenommen werden? Die Führungsspitze der Polizei hat das Thema sehr erkannt. Von daher bin ich da ganz guter Dinge, dass einiges, was zum Burn Out führt, in Zukunft vielleicht ein bisschen früher und besser erkannt wird.

Wie stark werden die Angebote der Polizei-Seelsorge in Anspruch genommen ?

Bredt-Dehnen: Die werden sehr gut wahrgenommen, das kann ich wirklich so sagen, ohne nach Komplimenten zu fischen. Unsere Seminare sind fast immer ausgebucht. Meine Kollegen vor Ort haben wirklich mehr als genug zu tun mit der Begleitung der Polizisten. Das ist viel stärker geworden als in den letzten Jahren.

Warum ist es stärker geworden?

Bredt-Dehnen: Ich glaube, weil die Menschen merken, dass sie mit dieser seelischen Belastung nicht einfach am Stammtisch fertig werden können, sondern dass es dazu wirklich einer professionellen Begleitung bedarf. Als Polizeiseelsorger sind wir ja immer mehrfach ausgebildet, nicht nur als Theologen, sondern auch meistens mit einer therapeutischen Ausbildung oder in Supervision oder Ehe- und Familienberatung, weil wie eben eine solche Arbeit sonst nicht professionell mach könnten.


Dietrich Bredt-Dehnen ist als leitender Landespfarrer bei der Evangelischen Kirche im Rheinland zuständig für die Arbeit der Polizeiseelsorge. Er arbeitet mit Behörden zusammen und koordiniert die Einsatzplanung. Bevor Bredt-Dehnen diesen Aufgabenbereich im Juli 2010 übernahm, war er 24 Jahre lang Gemeindepfarrer mit Schwerpunkten in den Bereichen Seelsorge, Gottesdienst und Öffentlichkeitsarbeit und außerdem lange Jahre Beauftragter des Kirchenkreises Wuppertal für Migrationsarbeit.