Die Cholera lässt Haitianer nicht in Würde sterben
Mehr als 1.400 Menschenleben hat die Cholera in Haiti schon gefordert. Neben den letzten Ruhestätten der Erdbebenopfer werden neue Massengräber ausgehoben.
24.11.2010
Von Silvia Ayuso

Die Lastwagen fahren wieder täglich über die mit Steinen übersäten Sandstraßen von Titayen, einem Vorort von Port-au-Prince. Für die Menschen in der Hauptstadt Haitis ist das eine schlechte Nachricht, denn Titayen ist ein symbolträchtiger Ort: Dort liegen die Massengräber, in denen tausende oder vielleicht zehntausende Opfer des Erdbebens vom Januar verscharrt wurden. Nun kommen die Opfer der jüngsten Katastrophe im Lande hinzu: der Cholera.

Neue Massengräber

Auf den ersten Blick sieht die Landschaft fast idyllisch aus. Von den mit Sträuchern und Gras bedeckten Hügeln aus kann man das Meer sehen. Man braucht aber nicht lange zu gehen, um die ersten Spuren des Horrors im Inneren der Hügel zu sehen: hier ein Teil einer Hüfte, dort ragt ein Oberschenkelknochen heraus. Etwas weiter liegt ein fast komplettes Skelett zwischen Müllbergen mit Resten von Schuhen und Kleidung - ein Zeichen der Dringlichkeit, mit der vor zehn Monaten die Leichen von Menschen abtransportiert wurden. Es war keine Zeit, sie in Würde zu beerdigen.

Im August mussten die Lastwagen eines dominikanischen Unternehmens, das in der Umgebung Kies für den Bau einer Straße holt, einige hundert Meter weit abrücken. Sie waren einem der Massengräber so nahe gekommen, dass plötzlich mehrere Leichen auf die Fahrzeuge fielen, erzählt Nono, einer der Arbeiter der Firma.

Diesmal fahren die Lastwagen mit den Leichen der Cholera-Opfer etwas weiter, zu einem "inoffiziellen" zwischen Gestrüpp liegenden Massengrab, auf dem Kühe grasen und kleine Steinhaufen die Stellen markieren, unter denen Erdbebenopfer ruhen. Einige Meter entfernt zeigt ein Haufen umgewühlter rötlicher Erde die Stelle, wo gerade ein neues Grab für mehr als ein halbes Dutzend Cholera-Opfer geschaffen wurde.

Kein Raum für würdevolle Abschiede

Anders als nach dem Erdbeben werden die Leichen jetzt in dicht verschlossene Plastiksäcke verpackt. Dies entspricht den Anweisungen der haitianischen Behörden, die auch vorschreiben, dass alle Körperöffnungen der Cholera-Opfer zugestopft und die Leichen mit Chlor dekontaminiert werden müssen.

Das Leichenhaus des Hauptkrankenhauses im Zentrum von Port-au- Prince nimmt inzwischen nur noch Leichen von Cholera-Opfern auf, die aus der Spezialklinik zur Behandlung der Krankheit kommen. Dort lässt der Strom neuer Patienten mit der typischen grauen Hautfarbe nicht nach. Jene, die nach schwerem Erbrechen und heftigem Durchfall qualvoll sterben, erwartet ein anonymes Ende in einem Massengrab. Im ärmsten Land Lateinamerikas gibt es - wieder einmal - keinen Raum für würdevolle Abschiede.

UN: Ärzte und Schwestern fehlen in Haiti

Die Vereinten Nationen suchen händeringend Mediziner wegen der Cholera-Epidemie in Haiti. "Wir brauchen dringend mehr Ärzte. Noch dringender suchen wir aber Schwestern und Pfleger", sagte Nigel Fisher von der UN-Mission Minustah am Dienstag via Videokonferenz zwischen Port-au-Prince und dem UN-Hauptquartier in New York. Auch das Material werde knapp. "Wir haben überall Sorgen. Bei den Betten, bei den Medikamenten und bei anderen Dingen. Dafür brauchen wir dringend Hilfe von außen."

Die Epidemie wird nach Fishers Befürchtung noch mindestens ein Jahr dauern. "Wir tun alles, was wir können. Aber solch eine Seuche kann man nicht in ein paar Wochen oder Monaten in den Griff bekommen." Aus einigen Regionen gebe es kaum Informationen. Es müsse von bis zu 70.000 Erkrankten ausgegangen werden. Nach wie vor gebe es keine Hinweise, dass UN-Personal die Krankheit eingeschleppt habe: "Es gab mehrere Tests, alle waren negativ. Zudem gibt es bis heute nicht einen UN-Mitarbeiter, der Cholera-Symptome zeigt."

UN warnt vor beschleunigter Cholera-Verbreitung in Haiti

"Die Epidemie verbreitet sich mit zunehmendem Tempo", sagte der UN-Koordinator in Haiti, Nigel Fischer, am Dienstag (Ortszeit) vor Journalisten. Die internationale Gemeinschaft müsse darum ihre Hilfe "deutlich erhöhen". Frühere Prognosen der Weltgesundheitsorganisation gehen von bis zu 200.000 Erkrankungen in den nächsten Jahren aus. Währenddessen beklagten die UN, dass nur sieben der erwünschten 164 Millionen US-Dollar Hilfe eingegangen seien.

Fischer schätzte außerdem die bisherigen Opferzahlen als zu tief ein. Statt der zuletzt offiziell gemeldeten 1.415 Todesfälle habe es in Wirklichkeit bereits 2.000 Tote gegeben. Auch die Organisation "Ärzte ohne Grenzen" warnte, dass der Gipfel der Epidemie noch nicht erreicht sei.

Nach Angaben der haitianischen Regierung, die auf der Erhebung vom vergangenen Samstag beruhen, haben sich seit Ausbruch der Seuche am 19. Oktober 60.240 Menschen infiziert, von denen noch 25.248 behandelt werden. Die meisten Opfer wurden im Department Artibonite verzeichnet, wo die Krankheit ausgebrochen war. In der Hauptstadt Port-au-Prince, wo im Januar ein Erdbeben rund 230.000 Menschen das Leben kostete, starben nach offiziellen Angaben 74 Menschen an der Cholera.

dpa / epd