Ein Amoklauf wäre der GAU: Besuch bei der Schützengilde
Schießen verbinden die einen mit Sport und Spaß, den anderen macht es Angst. Wie denken Aktive eines Schützenvereins über die Gefahr, die von ihren Groß- und Kleinkalibern ausgeht?
22.11.2010
Von Ulrike Pape

Die Einfahrt ist dunkel, das Schild "Gilde Berlin 1433" klein und mit Graffiti besprüht. Neben einem Kraftwerk und einer Schrebergartensiedlung im Stadtteil Wilmersdorf ist Berlins ältester Schützenverein "Schützengilde Berlin Korporation von 1433 e.V." beheimatet.

Die Jalousien sind unten, die Türen zu den Waffenständen für Großkaliber verschlossen, nur die Schießhalle für Luftgewehre ist hell erleuchtet. Drinnen herrscht gespannte Ruhe. Heute sind Vereinsmeisterschaften in der Disziplin Luftpistole. Daniela Wagner (u.) wärmt sich auf. In der Schützengilde gehört sie als Frau zu einer Minderheit. Von 91 Mitgliedern sind gerade mal 15 weiblich. Erst seit 1979 dürfen Frauen überhaupt Mitglied sein.

Spaß an der Fünfkampf-Disziplin

Als Daniela Wagner vor dreieinhalb Jahren in die Schützengilde Berlin eintrat, zeichneten sich bereits harte Zeiten für das deutsche Schützenwesen ab. Der Amokläufer am Erfurter Gutenberg-Gymnasium, der 2002 die Republik schockierte, war Mitglied im Schützenverein. Auch bei den Amokläufen danach standen Schützenvereine und ihre rund 1,5 Millionen Mitglieder bundesweit im Kreuzfeuer, waren doch fast immer ihre Waffen involviert: ob in Winnenden, wo der 17-jährige Attentäter Zugang zum Waffenschrank des Vaters hatte, einem Sportschützen, oder in Lörrach, wo die Amokläuferin nach Austritt aus dem örtlichen Schützenverein ihre Waffe behalten hatte. Der mutmaßliche Heckenschütze im südschwedischen Malmö soll ebenfalls in einem Schützenverein gewesen sein.

Daniela Wagner hat sich trotzdem nicht abschrecken lassen: "Früher beim Fünfkampf war Schießen die Disziplin, die mir am meisten Spaß gemacht hat." Schießen sei ideal als Ausgleich zum Alltagsstress. Das Wichtigste sei ein freier Kopf, ohne Ruhe und Konzentration ließe sich nicht ins Schwarze treffen. Sie besitzt eine Luft- und eine Kleinkaliberpistole. Beide bewahre sie ordnungsgemäß in einem Tresor auf.

"Je größer das Kaliber, desto besser", sagt die 31-jährige und grinst. Anschaffen will sie sich eine - übrigens nicht allgemeingültig definierte - Großkaliberwaffe aber nicht, die könne sie genauso gut im Verein ausleihen. Sportwaffen und Munition werden im Vereinshaus hinter zwei Gittertüren und zwei Panzertüren getrennt voneinander in diversen Tresoren aufbewahrt. Zugang haben nur drei Personen. "Sicherheit wird bei uns groß geschrieben. Wir erfüllen sämtliche Auflagen", sagt Achim Görlach, erster Vorsteher im Verein, und zeigt auf das Siegel "Wertschutztür" rechts oben an einer Panzertür.

Erhöht ein zentrales Waffenlager die Sicherheit?

Seit 50 Jahren ist Achim Görlach Mitglied in der Schützengilde. Dass Schützenvereine nach Amokläufen oft als Sündenbock herhalten müssen, regt den 69-Jährigen auf: "Wir sind ein ganz normaler Sportverein", sagt er und fügt augenzwinkernd hinzu: "Im Grunde machen wir nichts anderes, als auf eine umständliche Art und Weise Papier zu lochen." Die Waffen der Schützen zur besseren Kontrolle zentral im Vereinshaus zu lagern, lehnt sein Verein entschieden ab. Achim Görlach: "Gerade weil Schützenheime oft abseits liegen, wäre das erst recht ein Anreiz für Kriminelle, dort einzubrechen und Zugriff auf eine größere Anzahl Sportwaffen zu erlangen."

Das sieht Jürgen Gärtner, Presse- und Jugendwart der Schützengilde, genauso: "Mit einem zentralen Waffenlager erhöht sich nicht automatisch die Sicherheit". Beim Transport vom Lagerort zum Wettkampf könne zum Beispiel auch etwas passieren. Logistisch sei ein zentral verwaltetes Lager ohnehin nicht machbar, findet Jürgen Gärtner: "Soll dann etwa immer jemand vom Vorstand da sein und die Sportwaffen herausgeben und später wieder zurücknehmen?"

Er selbst, seine Frau, seine Tochter - jeder in seiner Familie habe eine Sportwaffe. Dies sei schon allein aus praktischen Gründen erforderlich, weil jede Waffe individuell justiert werde: "Ich möchte nicht, dass ich beim Training und Wettkampf die Visierung und den Abzug immer wieder neu einstellen muss", argumentiert Jürgen Gärtner, seit fast 30 Jahren Vereinsmitglied.

Kein Verzicht auf große Kaliber

Die meisten Schützen schießen laut Vereinsvorstand Achim Görlach zwar mit Kleinkalibern. Gänzlich auf gefährliche Großkaliber zu verzichten, sei jedoch "absurd", sagt Achim Görlach: "Man schafft ja beim Boxen auch nicht die Schwergewichtsklasse ab oder bei Autorennen die Formel-1-Fahrzeuge." Und Jürgen Gärtner pflichtet bei: "Wir sind jedes Mal entsetzt, wenn wieder ein Amoklauf mit Schusswaffen passiert, und hoffen immer, dass es kein Sportschütze war." Mitverantwortlich fühlen sie sich jedoch nicht.

Ohnehin können mit Schusswaffen praktisch aller Kalibergrößen "tödliche Verletzungen herbeigeführt werden", wie ein Bericht des Bundesinnenministeriums vom Februar 2010 festhält. Erstmals geändert wurde das in den 1970er-Jahren in Westdeutschland entstandene Waffengesetz 2003 nach dem Amoklauf von Erfurt. Weitere Attentate folgten, weshalb das Gesetz 2008 und nach den Ereignissen in Winnenden 2009 erneut verschärft wurde. Seither bekommen Sportschützen erst ab 18 statt schon mit 14 Jahren großkalibrige Waffen in die Hand.

Behörden können außerdem unangemeldet kontrollieren, ob Schützen ihre Waffen zu Hause wie vorgeschrieben verschlossen aufbewahren. Wie die Einhaltung der neuen Vorschriften in der Praxis überwacht werden soll, ist allerdings ungeklärt. Für die verdachtsunabhängigen Kontrollen in Privatwohnungen fehle das Personal, kritisiert zum Beispiel Konrad Freiberg, Chef der Gewerkschaft der Polizei.

Schützen befürworten Kontrollen

Die Berliner Schützengilde hat gegen die behördlichen Kontrollen nichts einzuwenden: "Das ist gut, weil es Druck ausübt für eine sachgerechte Lagerung", sagt Jürgen Gärtner. Ein Vereinsmitglied habe bereits eine Kontrolle erlebt - ohne Beanstandungen. Noch strengere Vorschriften lehnt der Verein jedoch ab. "Die Gesetze sind scharf genug, sie müssen eben nur eingehalten werden", sagt Achim Görlach.

Das sehen viele anders und fordern ein noch schärferes Waffenrecht. Etwa 100.000 Unterschriften gegen tödliche Sportwaffen überreichte die Initiative "Keine Mordwaffen als Sportwaffen" gemeinsam mit dem "Aktionsbündnis Amoklauf Winnenden" im Juni dem Bundestag. Ziel der Kläger ist, ein generelles Verbot des privaten Besitzes von tödlichen Schusswaffen zu erreichen. "Wer erlaubt, dass tödliche Schusswaffen millionenfach als Sportgeräte verteilt werden, muss damit rechnen, dass diese Waffen zum Morden benutzt werden", heißt es in der Antragsschrift.

Die Grünen warfen zuletzt nach dem Amoklauf von Lörrach der Bundesregierung Versäumnisse vor. "Waffen haben zu Hause nichts zu suchen", postulierte Parteichefin Claudia Roth. Sie kritisierte, die Regierung knicke vor der Waffenlobby und den Schützenverbänden ein und verweigere sich konsequenten Waffenverboten. Die Forderungen der Kritiker, den Besitz privater tödlicher Schusswaffen und das Schießen mit Großkalibern in Sportvereinen ganz zu verbieten, blieben allerdings bislang folgenlos.

Millionen legale Schusswaffen - und Millionen illegale

In Deutschland gibt es zehn bis elf Millionen offiziell registrierte Schusswaffen. Die Zahl der illegal erworbenen Gewehre, Pistolen und Revolver ist jedoch mindestens doppelt so hoch, schätzt die Gewerkschaft der Polizei. Genaue Angaben gibt es nicht. Noch ist die Verwaltung privater Schusswaffen Ländersache und uneinheitlich organisiert. In dem einen Bundesland ist die Polizei zuständig, im anderen das Ordnungsamt. Erst Ende 2012 soll ein zentrales Waffenregister, wie von der EU gefordert, eingeführt werden. Darin sollen insbesondere Schusswaffen, deren Erwerb und Besitz der Erlaubnis bedürfen, sowie Daten von Erwerbern, Besitzern und Überlassern dieser Schusswaffen bundesweit elektronisch erfasst und auf aktuellem Stand gehalten werden.

Auch diesem Waffenregister steht die Schützengilde Berlin offen gegenüber. Doch ein Knackpunkt bleibt das Thema privater Waffenbesitz. Dabei ist der Schützengilde die Forderung nach zentraler Lagerung im Vereinsgebäude nicht ganz unbekannt: Während der Alliiertenzeit erhielt der West-Berliner Verein eine Sondergenehmigung für Feuerwaffen - und war verpflichtet, die Geräte ausschließlich im Verein aufzubewahren.


Ulrike Pape ist freie Journalistin in Berlin.