"Jedes Urteil hat Präventivwirkung für die Zukunft"
Mehr als sechs Jahre war Renate Jaeger Richterin am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg. Ende des Jahres geht sie mit 70 Jahren in den Ruhestand. Die ehemalige Bundesverfassungsrichterin ist überzeugt, dass Länder wie die Türkei, Bulgarien und Rumänien ohne den Gerichtshof in einer völlig anderen Situation wären. Trotzdem zieht die deutsche Juristin im Interview mit dem epd eine ernüchternde Bilanz zur Lage der Menschenrechte in Europa.
22.11.2010
Die Fragen stellte Tanja Tricarico

Frau Jaeger, wie steht es um die Menschenrechte in Europa?

Renate Jaeger: In vielen Staaten sind die Menschenrechte fernab von der normalen Justiz. Häufig wird erstmals in Europa darauf geschaut, ob die Menschenrechte nicht nur in einer Konvention ratifiziert, sondern auch durchgesetzt werden. Große Teile Osteuropas haben die Rechtsstaatlichkeit noch nicht gepachtet. Wir sehen große Unterschiede, obwohl es auch viele Verurteilungen westeuropäischer Staaten gibt.

47 Staaten sind beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte vertreten. Genauso viele Weltanschauungen treffen hier aufeinander. Wie heftig wird bei Religionsfragen diskutiert?

Jaeger: Das sind hier keine heißen Debatten. Es gibt eine große Übereinstimmung darin, dass die Religionszugehörigkeit der Richter eine private Frage ist. Sie kommen nur mit Muslimen, Christen, Juden oder Orthodoxen klar, wenn diese Fragen nicht jedes Mal hochgespielt werden. Gleichzeitig berührt die Religionszugehörigkeit ethische, moralische und rechtliche Fragen. Wir müssen das jeden Tag sauber trennen und uns respektieren. Es geht nicht darum, den anderen zu tolerieren und damit zu dulden, sondern darum, dass wir alle gleichwertig sind.

In vielen Staaten sind religiöse Fragen jedoch existenziell.

Jaeger: Klassisch laizistische Staaten wie Frankreich kennen das nicht. Wir haben für Frankreich bestätigt, dass es das Kopftuchverbot für Schülerinnen in Schulen gibt. Das heißt nicht, dass wir für Deutschland, wo das Verhältnis zwischen Staat und Kirche anders geregelt ist, dasselbe Urteil fällen würden. Auch das Burkaverbot, wenn es hier zur Sprache kommt, würde nicht emotional diskutiert werden. Das kann ich garantieren.

Die Religionen werden gleich behandelt 

Erst kürzlich hat der Gerichtshof einem Organisten Recht gegeben, der von der katholischen Kirche entlassen wurde, weil er mit seiner Geliebten und dem gemeinsamen Kind zusammenlebte. Zeitgleich wurde die Klage eines Mormonen, der in einer ähnlichen Situation war, abgewiesen. Wie der Gerichtshof entscheidet, ist für die Bevölkerung häufig schwer zu verstehen.

Jaeger: Entscheidend waren die Unterschiede zwischen den Tätigkeiten der Kläger, die die Gerichte nicht ausreichend berücksichtigt hatten: ein Organist und ein leitender Mitarbeiter in der Öffentlichkeitsarbeit. Drehen wir es doch einmal um: Hätten ein katholischer Missionar und ein mormonischer Organist geklagt, so wäre genau umgekehrt entschieden worden. Es kommt nicht darauf an, welcher Religion man angehört, sondern wie die Sachfrage zu entscheiden ist. Die Religionen werden gleich behandelt. In Deutschland wird sehr leicht argumentiert, dass die großen Kirchen, weil sie kirchenrechtlich eine andere Stellung haben, hinsichtlich der Religionsfreiheit anders behandelt werden müssen. Das wird von vielen hier nicht so gesehen.

Der Organist hat über zehn Jahre auf dieses Urteil gewartet. Auch in anderen Fällen, etwa beim Thema der nachträglich verlängerten Sicherungsverwahrung, dauert es sehr lange, bis es zu einer Entscheidung kommt. Warum?

Jaeger: Hier haben wir ein großes und vielschichtiges Problem. Die Vorbereitung der Fälle, bis sie zugestellt werden konnten, dauerte hier mehr als drei Jahre. Es werden mündliche Verhandlungen anberaumt und viele Schriftsätze verfasst. Zudem müssen wir Prioritäten setzen. Wenn Eilanträge eingehen, müssen diese sofort bearbeitet werden.

2009 wurden über 57.000 Beschwerden bearbeitet. Das sind 15 Prozent mehr als 2008. Täglich erreichen Hunderte neue Fälle Straßburg. Wie wirksam sind die Urteile?

Jaeger: Sie haben sehr viel bewirkt. Die Türkei ist ein gutes Beispiel: Sie ist seit 60 Jahren hier Mitglied und wäre sicher in einer völlig anderen Situation, wenn sie die Rückendeckung durch den Europarat und durch dieses Gericht nicht hätte. Die Feststellung von Verletzungen der Menschenrechtskonvention ist heilsam für den Zustand einer Gesellschaft. Jedes Urteil hat Präventivwirkung für die Zukunft.

Das heißt, der Gerichtshof ist ein Wegweiser zu mehr Demokratie?

Jaeger: Er hat einen Effekt wie eine Impfung gegen Menschenrechtsverletzungen im eigenen Land. Die Menschenrechte können sich nur durchsetzen, wenn die Bevölkerung mitmacht. Die Beschwerden müssen vom Einzelnen ausgehen und das ganze Land erfassen.

Ende des Jahres hören Sie als Richterin beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte auf. Welche Bilanz ziehen Sie?

Jaeger: Das Gericht wird mir nicht fehlen. Aber ich möchte die Zeit nicht missen, obwohl sie mich vor große Herausforderungen gestellt hat. Dieser Gerichtshof ist sehr nötig, damit die Menschenrechte in Europa durchgesetzt werden.

epd