TV-Tipp: "Lenin kam nur bis Lüdenscheid" (3sat)
3sat zeigt mit dem Dokumentarfilm eine Reise in die deutsche Vergangenheit der 1960er Jahre. Politische Umwälzungen werden mit der Sicht von Kinderaugen geschildert.
22.11.2010
Von Tilmann P. Gangloff

"Lenin kam nur bis Lüdenscheid", 26. November, 22.30 Uhr auf 3sat

Auf den ersten Blick gibt es nur zwei Möglichkeiten, diesen Film von ganzem Herzen genießen zu können: Entweder ist man ungefähr so alt wie der Autor (Jahrgang 1964); oder wie seine Eltern. Mit zunehmender Dauer jedoch entwickelt die filmische Biografie einen ganz eigenen Reiz: In der Lebensgeschichte von Erfolgsautor Richard David Precht ("Wer bin ich – Und wenn ja, wie viele?") spiegelt sich die Geschichte dieses Landes. Es genügt also völlig, ebenfalls in der Provinz aufgewachsen zu sein. Perfekt wird das Vergnügen, wenn auch die eigenen Eltern eine Mission hatten und ihre Kinder entsprechend indoktriniert haben, ganz gleich, ob die Motive politischer, ökologischer oder religiöser Natur waren.

Sympathischerweise tut Precht nie so, als sei sein Werdegang etwas exzeptionell Besonderes. Und das ist er ja auch nicht. Kindheit in den Sechzigern, Jugend in den Siebzigern: Das allein ist noch kein Schicksal. Und dass seine Eltern stramme Sozialisten waren, kam in jenen Jahren öfter vor; wenn auch nicht in Solingen, einer Kleinstadt im Bergischen Land. Der kleine Richard wuchs in einem Umfeld auf, das für heutige Kinder unvorstellbar sein dürfte. Alles, was irgendwie nach Imperialismus roch, kam nicht ins Haus: keine Cola, keine Comics (außer Asterix), keine amerikanische Pop-Musik, keine Taschenrechner. Außerdem adoptierten Prechts Eltern zwei vietnamesische Waisen. Das war derart sensationell, dass der WDR gleich mehrere Reportagen über die Familie drehte.

Flüssig, selbstironisch und höchst unterhaltsam kombinieren Precht und Regisseur André Schäfer eine deutsche Geschichte mit der Geschichte Deutschlands: weil natürlich auch das Leben außerhalb Solingens in Wort und Bild zur Sprache kommt. Und so bilden Vietnam-Krieg, Studentenunruhen in Berlin und deutsch-deutsche Fußballbegegnung einen heftigen Kontrast zur Hinterhofidylle. Ein Kunstgriff ergänzt die bekannten dokumentarischen Aufnahmen jener Jahre um das private Element: Prechts kleiner Sohn Oskar schlüpfte in die Rolle des Vaters. Gefilmt auf Super 8 und im typischen Wackelstil von Urlaubsfilmen entsprechen die Bilder perfekt den ebenfalls von Amateuren gedrehten Aufnahmen etwa eines Sommerlagers der Sozialistischen Deutschen Arbeiterjugend im vierzig Kilometer entfernten Lüdenscheid.

"Bernsteine der Erinnerung" nennt Precht dieses assoziative Kaleidoskop, das die bleierne Zeit des deutschen Herbsts ebenso thematisiert wie Mauerfall und Wiedervereinigung. Am Ende schließt sich der Kreis mit einem Familienfest, zu dem sich fast alle eingefunden haben, und Precht kann endlich Abschied vom Gestern nehmen.


Der Autor unserer TV-Tipps, Tilmann P. Gangloff, setzt sich seit über 20 Jahren als freiberuflicher Medienkritiker unter anderem für "epd medien" und verschiedene Tageszeitungen mit dem Fernsehen auseinander. Gangloff (geb. 1959) ist Diplom-Journalist, Rheinländer, Vater von drei Kindern und lebt am Bodensee. Er gehört seit Beginn der 1990er Jahre regelmäßig der Jury für den Adolf-Grimme-Preis an und ist ständiges Mitglied der Jury Kinderprogramme beim Robert-Geisendörfer-Preis, dem Medienpreis der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD).