Kirchenpräsident: Lehrer sollen Bleiberecht nicht entscheiden
Welche ausländischen Jugendlichen dürfen künftig in Deutschland bleiben und welche nicht? Nach eigenem Bekunden hat die Konferenz der Innenminister in dieser Woche bei dieser Frage einen Durchbruch erzielt.
19.11.2010
Die Fragen stellte Anne Kampf

Der Leiter der Kammer für Migration und Integration der Evangelischen Kirche in Deutschland und Kirchenpräsident der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN), Volker Jung, fordert hingegen nachvollziehbare Kriterien für die Entscheidung über ein Aufenthaltsrecht in Deutschland. Insbesondere warnt er davor, mit der Kopplung an schulische Leistungen Lehrer de facto über eine Abschiebung entscheiden zu lassen - und vor unerträglichem Leistungsdruck für die betroffenen Kinder.

evangelisch.de: Was halten Sie von dem Gedanken des niedersächsischen Innenministers Uwe Schünemann (CDU), das Bleiberecht Jugendlicher von deren Schulleistungen oder Integrationsleistung abhängig zu machen?

Jung: Zunächst einmal freue ich mich über jeden Vorschlag, der für Jugendliche und ihre Familien eine Bleiberechtsperspektive eröffnet. Es macht Mut zu sehen, dass in fast allen Bundesländern eine Sensibilität für das Problem vorhanden ist. Was den aktuellen Vorschlag von Herrn Schünemann angeht, bin ich jedoch skeptisch. Wenn die Frage des Aufenthaltstitels an Schulnoten festgemacht würde, müssten Lehrer faktisch über das Wohl und Wehe ganzer Familien entscheiden. Jeder von uns, der Kinder im schulpflichtigen Alter hat, kann sich leicht ausmalen, zu welchen Situationen eine solche Regelung führen würde. Es ist zu befürchten, dass der Leistungsdruck für die Kinder unerträglich wird und der Schutzraum der Familie völlig überbelastet.

Die Rede ist vom Bleiberecht für "gut integrierte" Jugendliche - wie denken Sie darüber?

Jung: Schon die bisherigen Beschlüsse und gesetzlichen Regelungen versuchen zu definieren, was gute Integration bedeuten kann, wie etwa gute Sprachkenntnisse oder die Sicherung des Lebensunterhaltes. Als Kirchen können wir das grundsätzlich nachvollziehen, legen aber auch Wert darauf, dass die Kriterien auch erfüllbar sind, wie beispielsweise beim Lebensunterhalt.

Finden Sie es richtig, in manchen Fällen Eltern und Kinder zu trennen?

Jung: Für die Kirchen ist der Schutz der Familie ein zentrales Anliegen. Dieser Schutz, den übrigens auch das Grundgesetz unseres Landes gewährt, gilt für alle Menschen, unabhängig von ihrer Herkunft oder ihres Aufenthaltsstatus. Insofern lehnen wir eine staatlich erzwungene Aufspaltung von Familien ab. Schließlich sollte es doch mittlerweile auch bei den verantwortlichen Politikern angekommen sein, dass ein intaktes Familienleben eine wichtige Bedingung für gelingende Integration ist.

Sollte ein Bleiberecht für alle Jugendlichen gelten - unabhängig von Voraussetzungen?

Jung: Wenn Menschen lange in unserem Land leben, hier sogar geboren und aufgewachsen sind und gar nichts anderes kennen als unsere Gesellschaft, stellt sich für mich schon die Frage, warum diese jungen Menschen zwangsweise in ein ihnen fremdes Land mit einer fremden Kultur geschickt werden sollen.

Nach welchen Grundsätzen sollte eine Bleiberechtsregelung gestaltet werden, die Sie befürworten?

Jung: Es sollte klare gesetzliche Vorgaben für ein Bleiberecht geben, die auch erfüllbar sind. Es geht hier schließlich um viele Familien, deren Kinder in Deutschland geboren und aufgewachsen sind. Sie gehen hier zur Schule, sprechen deutsch und fungieren im Alltag schon als Mittler zwischen den Kulturen. Integration braucht Geduld und Zeit. Deshalb können wir uns als Kirche gut vorstellen, dass eine Bleiberechtslösung an verschiedene Voraussetzungen geknüpft ist. Dazu zählen beispielsweise eine bestimmte Aufenthaltsdauer und eine eigene Lebensunterhaltssicherung. Aber es muss immer auch humanitäre Lösungen für Menschen in besonders schwierigen persönlichen Situationen geben. Das sind zum Beispiel chronisch Kranke oder traumatisierte Menschen.

Können Sie Ihre Haltung theologisch begründen?

Jung: Nach dem christlichen Menschenbild haben alle Menschen eine unantastbare Würde. Die ist nicht abhängig von ihrer Leistungsfähigkeit oder von anderen Eigenschaften. Sie kommt ihnen zu, weil Gott sie zu seinem Ebenbild geschaffen hat. Diese Würde zu schützen ist uns aufgegeben. Wie, das zeigt sich daran, wie Jesus mit den Menschen umgegangen ist. Er hat sich insbesondere den Armen und Bedrohten zugewendet. In seiner Nachfolge können wir Menschen nicht ausschließlich als Ressourcen oder Humankapital betrachten. Vielmehr folgen wir Jesus in seiner Fürsorge und Vorliebe für die Schwachen und Schwächsten der Gesellschaft.


 Anne Kampf ist Redakteurin bei evangelisch.de und zuständig für die Ressorts Politik und Gesellschaft.