Irakische Christen bangen um Familien und Freunde
Angst und Verzweiflung gehen um unter irakischen Christen, egal wo sie leben: in Bagdad, wo seit Ende Oktober viele Christen bei einer Welle von Terroranschlägen getötet oder verletzt wurden, aber auch in Deutschland, wo viele Verfolgte Zuflucht gefunden haben.
15.11.2010
Von Bettina von Clausewitz

"Wir sind froh, hier in Sicherheit zu sein. Aber jeder von uns hat doch Freunde, Bekannte oder sogar Familienangehörige, die umgebracht wurden. Das ist eine Katastrophe. Wir haben viel geweint in den letzten Tagen", sagt Bihnam Ahlam von der chaldäisch-katholischen Gemeinde in Essen.Die 41-Jährige, die als Integrationslotsin der Stadt für irakische Flüchtlinge arbeitet, hat drei Cousinen beim Geiseldrama am 31. Oktober in einer Bagdader Kirche verloren, bei dem 58 Menschen starben.

Letzte Woche kam es erneut zu einer Anschlagserie von Islamisten auf Privathäuser von Christen mit mindestens fünf Toten und 24 Verletzten. "Nach den Anschlägen bin ich sofort zu den betroffenen Familien gegangen, um mit ihnen zu beten und sie zu trösten. Wir kennen doch die meisten Getöteten", sagt Pfarrer Raad Sharafana von der Essener Exilgemeinde.

Die chaldäisch-katholische Gemeinde in der Ruhrgebietsstadt ist mit etwa 1.000 Mitgliedern aus ganz Nordrhein-Westfalen eine der größten bundesweit. Hier im Essener Norden haben Flüchtlinge in einer behaglichen roten Backsteinkirche neben stillgelegten Fördertürmen ein neues Zuhause gefunden, das ihnen das Bistum Essen überlassen hat.

Zwei Priesterkollegen getötet

Doch jedes Telefonat und jeder Blick ins Internet kann neue Unglücksbotschaften bringen. Auch für Sharafana, der 2006 von seinem Patriarchat vorsorglich ins Ausland geschickt wurde, nachdem er von Islamisten entführt und drei Tage gefangen gehalten worden war. Beim Anschlag auf die Bagdader Kirche seien zwei junge Priesterkollegen von ihm gezielt getötet worden, erzählt der Theologe sichtlich berührt. "Ich war mit beiden im Seminar, der jüngere war wie ein kleiner Bruder für mich."

Ebenso groß wie die Erschütterung der Exilanten ist aber auch der Wunsch, etwas zu tun. "Wir beten für die Toten und Verletzten und verlesen ihre Namen im Gottesdienst", erzählt Pfarrer Sharafana. Gleichzeitig hat sich die Essener Gemeinde mit einem dringenden Appell an Politik und Kirchen gewandt und um Hilfe gebeten. "Das Ziel ist allgemein bekannt: Sie wollen uns mit Gewalt aus unserem Land verjagen", heißt es in dem offenen Brief. Sharafana fürchtet einen weiteren Exodus. "Natürlich werden jetzt wieder viele gehen", sagt er. Früher habe es 500.000 Christen in Bagdad gegeben, jetzt seien es nur noch 150.000. Landesweit soll sich die Zahl seit dem Einmarsch der USA 2003 von 1,2 Millionen auf etwa 600.000 halbiert haben.

Funktion eines Sündenbocks

"Zuerst war es Basra im Süden, dann Mosul im Norden, und jetzt sind die Christen in Bagdad dran", sagt Bihnam Ahlam, die seit zehn Jahren in Deutschland lebt, etwas länger schon als Evan Khamo vom Gemeindevorstand. Seiner Ansicht nach hat die christliche Minderheit eine Sündenbockfunktion: "Die Terroristen sehen in uns den Westen und die Amerikaner, obwohl wir seit 2.000 Jahren im Irak leben - das ist doch unsere Heimat", sagt der 25-jährige Werkstoffprüfer in fast akzentfreiem Deutsch. Aber die Amerikaner mit ihren gepanzerten Fahrzeugen seien viel schwerer zu treffen als die christlichen Familien in ihren Häusern und Kirchen, die zudem Sozialneid weckten. "Viele von uns sind gut ausgebildet und haben gute Jobs, das spielt natürlich auch eine Rolle", sagt Khamo.

Vor allem Angst dominiert jetzt den Alltag der Christen in Bagdad, davon hören die Mitglieder der Essener Exilgemeinde in Zeit täglich. "Viele halten sich versteckt, sie schicken ihre Kinder nicht in die Schule, die Erwachsenen gehen nicht zur Arbeit, und wenn die Frauen einkaufen gehen, tragen sie vorsichtshalber ein Kopftuch", erzählt Pfarrer Sharafana. Im Gegensatz zu den zahllosen politischen Gruppierungen hätten die Christen keine Milizen, die sie mit Waffengewalt verteidigen. Und so hofft Sharafana einerseits auf eine politische Stabilisierung und fürchtet andererseits doch das Schlimmste: "Wenn es so weitergeht wie jetzt, dann wird es in zehn Jahren keine Christen mehr in Bagdad geben."

epd